10 Tage gebraucht für
Neal Stephenson "Anathem"
Großes Kino für Erwachsene, mit Überlänge (1000 Seiten!).
So ungefähr würde ich es knapp zusammenfassen wollen. Da die Handlung andernorts nachgelesen werden kann, beschränke ich mich hier 'mal auf die Dinge, die mir individuell wichtig sind. "Anathem" als Genuss zu lesen bedeutet, dass man Ausdauer benötigt und auf den ersten Seiten auch eine ziemliche Frustrationstoleranz. Die ersten 50 Seiten hat Stephenson imho geschrieben, um Klischee-SF-Leser abzuschrecken. Hätte ich nicht soviel Vertrauen in den Autor gehabt, hätte ich das Buch auch weggelegt. Extremes Wording und kaum eine Handlung. Erfreulicherweise ändert sich das später, aber der Verfasser braucht so an die 200 Seiten, um überhaupt einen erkennbaren Handlungsfaden im Sinne eines story telling aufzubauen. Danach gibt es eine spannende, nur gelegentlich hakelnde Handlungsebene, die sich auch gut liest. Unterbrochen wird das ganze durch eine Vielzahl philosophischer und kosmologischer Überlegungen, die sich in den Gesprächen zwischen den Hauptpersonen abspielen. Um deutlich zu machen, dass wir uns auf Arbre befinden und nicht auf der Erde, neigt Stephenson hier wiederum zum intensiven Gebrauch (erfundener) Fremdworte. Ich sag's mal so: Wer das verstehen will (und das ist möglich!!), sollte einigermaßen fundierte Kenntnisse der vorsokratischen, der platonischen und der neoplatonischen Philosophie mitbringen sowie die Grundzüge der antiken und modernen Kosmologie parat haben. Stephenson hat das Ganze offensichtlich intensiv durchgearbeitet und daraus eine konsistente Fremdweltwissenschaft/-philosophie gemacht. Erfreulicherweise hat das Buch (in meinem Fall die gebundene Ausgabe) ein umfangreiches Glossar am Schluss und einige Erläuterungen zu den verwendeten mathematischen Modellen. Trotzdem bleibt es auch für den gebildeten Leser stellenweise zugleich anstrengend und faszinierend, dem Verfasser in seiner Darstellung zu folgen. Zur Belohnung gibt es dann im letzten Drittel auch Außerirdische, pardon: Außerarbrische und Raumschiffe und Action-Abenteuer im Weltraum. Letzteres fand ich persönlich nicht die stärkste Seite im Roman; mich hat mehr der Mittelteil intensiv angesprochen. Solche Verbindung von ansprechendem Erzählenkönnen, anspruchsvollen Inhalten und einer sich spannend aber unvorhersehbar entwickelnden Handlung gehört zu dem Liebsten, was ich lese. Die langsame Entfaltung dieser Ideen und die Überlegungen zum Erstkontakt-Szenario sind großes wissenschaftliches Erzählkino!
Daher gibt es von mir
9 von 10 hyläischen Theorischen Welten
Aber nochmal ausdrücklich: "Anathem" ist definitiv kein Buch für Actionbuchleser und wissenschaftlich Ungebildete.
Es grüßt
Lensman