Lesezirkel: Kurzgeschichten!

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Teddy
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Teddy »

Catalpa hat geschrieben:Weiter am 04.12 mit "Arena" von Frederic Brown?
Müsste ich schaffen.
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Teddy
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Teddy »

Frederic Brown - Arena (1944)

Arena war für mich immer der Inbegriff der klassischen SF-Kurzgeschichte. Ich habe sie vor Jahrzehnten gelesen und konnte mich sowohl an die Haupthandlung als auch viele Details gut erinnern, was ja oft ein gutes Zeichen ist. Trotzdem hatte ich etwas Sorge, dass mir die Geschichte heute nicht mehr so toll gefällt wie in meiner Jugend. War aber umsonst. Auch beim Wiederlesen hat mich die Geschichte erneut in ihren Bann geschlagen. Für die, die den Inhalt nicht kennen: Die Menschheit befindet sich kurz vor einer Entscheidungsschlacht im Krieg mit einer außerirdischen Rasse, als eine dritte, weit entwickelte Partei eingreift und einen Mann-gegen-Mann- (bzw. Mensch-gegen-Alien-)Kampf in einer speziell präparierten Arena arrangiert. Die Rasse des Siegers darf sich in Ruhe weiterentwickeln, die Rasse des Verlierers wird vernichtet. Durch die geschickte Wahl des Aufbaus der Arena und der Physiologie des Aliens schafft es Frederic Brown eine ungemein spannende Geschichte zu erzählen, komplett aus sich des Mannes, der die schwere Bürde trägt, bei Verlust für die Vernichtung der Menschheit verantwortlich zu sein. Die Kämpfer sind recht unterschiedlich, so ist einer stärker, der andere dafür geschickter beim Bau von Werkzeugen. Ich finde es gut, dass der Mensch der körperlich stärkere ist, sodass am Ende nicht die übliche Gewitztheit-schlägt-Kraft-Geschichte entsteht. Vielmehr ist es ja das Mitgefühl mit einem fremden Lebewesen, das den Menschen den Sieg bringt, was zu einem befriedigenden Ende führt.
(In der Enterprise-Folge "Ganz neue Dimensionen" wurde der Plot von Arena verwendet. Hier muss Kirk gegen ein eidechsenartiges Alien antreten. Obwohl die Folge nicht schlecht ist, gefällt mir die original Kurzgeschichte um Klassen besser.)
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Catalpa
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Catalpa »

Teddy hat geschrieben:Arena war für mich immer der Inbegriff der klassischen SF-Kurzgeschichte. Ich habe sie vor Jahrzehnten gelesen und konnte mich sowohl an die Haupthandlung als auch viele Details gut erinnern, was ja oft ein gutes Zeichen ist.
Ging mir ähnlich. „Arena“ ist die einzige Story aus der Zusammenstellung, die ich schon kannte (vor ca. 15 Jahren gelesen). Ich fand sie damals klasse, und daran hat sich auch heute nichts geändert. Vielleicht liegt das daran, dass Brown mehr auf Spannung setzt, als auf Sense of Wonder. Wobei das Alien in seiner völligen Fremdartigkeit sehr gelungen ist. Die Kommunikation beschränkt sich darauf, dass das Alien telepathische Hasswellen aussendet. Da ist es geradezu rührend, wie der menschliche Protagonist versucht ebenfalls Telepathie anzuwenden um seinen Gegner auszuschalten. Was diesen überhaupt nicht tangiert.
Überhaupt scheint mir Fredric Brown irgendwie herauszustechen. Die meisten Autoren des Golden Age neigen doch eher dazu, mit etwas einfachem zu beginnen und dann ein großes Panorama auszubreiten. Brown geht den umgekehrten Weg. Er beginnt seine Geschichte mit einem intergalaktischen Konflikt und reduziert diesen dann auf einen simplen Zweikampf.
Bemerkenswert finde ich folgende Annahme, die Brown offenbar als Ausgangspunkt für seine Geschichte nimmt: Wenn zwei gleichstarke Kontrahenten sich bekriegen ist es für einen überlegenen Dritten offenbar einfacher und nachhaltiger einen der Kontrahenten auszuschalten, als zwischen Beiden zu vermitteln.
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Ender »

Mir hat die Geschichte auch sehr gut gefallen. Sie ist einerseits exotisch genug, um die Fantasie anzuregen und die Lust des SF-Fans an so Dingen wie "Cooles Setting", "Gewaltige Hintergrundgeschichte", "Fremdartige Aliens" etc... zu befriedigen. Und andererseits fokussiert sie sich dann aber sehr bald auf die Situation, bzw. die pure Spannung eines Zweikampfs auf Leben und Tod. Wobei es in diesem Fall ja sogar um noch viel mehr geht.
Teddy hat geschrieben:Ich finde es gut [...] dass am Ende nicht die übliche Gewitztheit-schlägt-Kraft-Geschichte entsteht. Vielmehr ist es ja das Mitgefühl mit einem fremden Lebewesen, das den Menschen den Sieg bringt, was zu einem befriedigenden Ende führt.
Genau so habe ich es auch empfunden.
Catalpa hat geschrieben:Die meisten Autoren des Golden Age neigen doch eher dazu, mit etwas einfachem zu beginnen und dann ein großes Panorama auszubreiten. Brown geht den umgekehrten Weg.
Genau so habe ich es auch empfunden.

(Hey, es hat echte Vorteile, seine Meinung erst als Letzter zu äußern... :smokin)


Ich habe mich außerdem gefragt, ob Suzanne Collins, als sie ihre "Tribute von Panem"-Bücher schrieb, diese Geschichte von Brown wohl kannte. Denn dieser direkte Kampf ums Überleben unter erschwerten Bedingungen, in einer eigens dafür präparierten Arena, hat mich schon stark daran erinnert.
Catalpa hat geschrieben:Bemerkenswert finde ich folgende Annahme, die Brown offenbar als Ausgangspunkt für seine Geschichte nimmt: Wenn zwei gleichstarke Kontrahenten sich bekriegen ist es für einen überlegenen Dritten offenbar einfacher und nachhaltiger einen der Kontrahenten auszuschalten, als zwischen Beiden zu vermitteln.
Puh... eine ziemlich unangenehme Annahme. Aber in der Tat: zumindest in dieser Geschichte ist die überlegene Macht offensichtlich zu dem Schluss gekommen. Dann wollen wir mal hoffen, dass das nicht allgemeingültig ist..
Zwischenzeitlich kann man sich auch durchaus die Frage stellen: Woher nimmt man eigentlich die Gewissheit, dass die eigene Spezies das Überleben wirklich eher verdient hat als die andere Seite? Aber diesen möglichen Gewissenskonflikt löst Brown bereits auf, bevor er richtig zentral wird, indem er die Aliens als hasserfüllte und grausame Wesen darstellt.
Alles in allem mMn eine vielschichtigere Geschichte, als man auf den ersten Blick meinen könnte. Sehr gelungen.

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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Teddy »

Ender hat geschrieben:
Catalpa hat geschrieben:Die meisten Autoren des Golden Age neigen doch eher dazu, mit etwas einfachem zu beginnen und dann ein großes Panorama auszubreiten. Brown geht den umgekehrten Weg.
Genau so habe ich es auch empfunden.
Das war beispielsweise bei den Waffenhändlern so und es gibt sicher zahlreiche andere Beispiele, die das bestätigen. Andererseits ist der finale Zweikampf Mann gegen Mann ebenfalls ein sehr häufiges Motiv, das insbesondere im Film bis ins klischeehafte ausgebeutet wurde, früher im Western, zur Zeit in den Superheldenfilmen, aber auch in vielen SF-Filmen.
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Ender »

Teddy hat geschrieben:Andererseits ist der finale Zweikampf Mann gegen Mann ebenfalls ein sehr häufiges Motiv, das insbesondere im Film bis ins klischeehafte ausgebeutet wurde, früher im Western, zur Zeit in den Superheldenfilmen, aber auch in vielen SF-Filmen.
Das stimmt. In dieser Geschichte fühlt es sich (zumindest ging es mir so) allerdings fast noch eher nach einem Gladiatorenkampf nach römischem Vorbild an. Alleine der Titel "Arena" unterstützt diese Assoziation natürlich.
Aber auch dafür gibt es ja noch andere Beispiele. Einzelne Szenen aus "Star Wars" oder "John Carter" fallen mir da ein.
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Ender »

Ich mache ganz unangekündigt einfach mal weiter…

Murray Leinster – Erstkontakt

Worum es in dieser Geschichte geht, lässt sich unschwer am Titel erkennen. Ein Forschungsraumschiff soll ein 4000 Lichtjahre entferntes Doppelsternsystem untersuchen und trifft dort unerwartet auf ein – sich offensichtlich in ähnlicher Mission befindliches – Alienraumschiff.
Den Kern dieser Story bildet das Dilemma, in dem sich die Besatzungen beider Schiffe nun befinden: Trotz friedlicher Kontaktaufnahme und vorsichtiger Annäherung sind beide Seiten fest davon überzeugt, das andere Raumschiff zerstören zu müssen. Denn nur so kann sichergestellt werden, dass die eigene Heimatwelt unentdeckt und damit vor einem möglichen Angriff der fremden (und evtl. technisch überlegenen) Rasse geschützt bleibt.
Was also tun? Einerseits möchte man möglichst viel von der anderen Spezies erfahren und lernen, andererseits muss man sie vernichten. Und zwar bevor die Gegenseite einem damit zuvorkommt.

Thematisch erinnert diese Erzählung stark an die vorangegangene: Wie in „Arena“ geht es auch hier darum, dass ein Mensch/Alien - Zweikampf über das Schicksal der gesamten Spezies entscheiden soll. In diesem Fall heißt es also nicht „Mann gegen Kugel“, sondern „Raumschiff gegen Raumschiff“.
Allerdings steht in Leinsters Geschichte nicht der direkte Kampf im Mittelpunkt, sondern die Fragen um Vertrauen und Misstrauen, Verantwortung, sowie die Lösung (bzw. Ausweglosigkeit) des o.g. Dilemmas.

Interessant finde ich, dass für beide Seiten von vorneherein völlig außer Frage steht, dass nur eine Seite dieses zufällige Zusammentreffen überleben darf. Eine andere Lösung KANN es gar nicht geben. Eine moralisch sehr bedenkliche und rein strategisch-militärisch geprägte Sichtweise … aber wahrscheinlich durchaus realistisch. Gerade weil sich beide Spezies so erstaunlich ähnlich sind (sowohl äußerlich als auch in ihrer Denkweise), misstrauen sie sich. Vermutlich nicht ganz zu Unrecht.

Die Grundidee dieser Kurzgeschichte, die besondere Konstellation und die sich daraus ergebenden Fragen fand ich hochspannend und sehr gelungen.
Stilistisch war ich nicht restlos überzeugt; so gibt es beispielsweise etliche Wiederholungen und dadurch unnötige Längen. Und ob die Auflösung dann wirklich so funktionieren würde, kam mir doch etwas fragwürdig vor.

Aber insgesamt eine Geschichte, über die ich noch eine Weile nachgedacht habe – und das ist ja auf jeden Fall ein Qualitätsmerkmal.
Ich würde sie empfehlen.
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Teddy »

Murray Leinster hat mMn einen typischen SF-Kurzgeschichtenplot entworfen: Es wird kurz ein exotisches Setting entworfen; ein nahezu unlösbares Problem tritt auf; das Problem wird auf gewitzte Weise gelöst. Durch das Problem entsteht sofort die spannende Frage, wie man da wieder rauskommt. So weit so gut. Trotzdem stellen sich sofort einige Fragen: Warum haben Menschen und Aliens zufällig die gleiche Entwicklungsstufe? Das ist doch extrem unwahrscheinlich, wird aber von allen sofort so angenommen. Gibt es wirklich nur die Option der Vernichtung des Gegners? (Vielleicht habe ich zu viel Star Trek geschaut, aber das erscheint mir doch sehr einseitig.) Und warum ist die Lösung jetzt sicher? Wenn vorher die Angst bestand, dass das Raumschiff zurückverfolgt werden kann, so ist das doch jetzt noch wahrscheinlicher, da man sein eigenes Raumschiff verfolgen muss, von dem man die "Warpsignaturen" (oder was auch immer) genau kennt. Und selbst wenn es die nicht gibt, weiß man ja nicht, ob das andere Raumschiff sowas hat.
Die Grundidee ist durchaus diskussionswürdig: Sollen wir eher nach Außerirdischen suchen oder lieber versuchen sie zu meiden? Murray Leinsters Geschichte ist eher eine Parabel auf die vielfältigen zwischenmenschlichen Konflikte.
Noch ein paar Worte zum alter der Geschichte. Es gibt nur wenig Hinweise, die auf die Zeit ihrer Entstehung deuten: Der mit Atomantrieb ausgerüstete Raumanzug oder der Dekodierer, der Wortkarten ausspeit, sind mir aufgefallen. Dann schon eher im Gesellschaftlichen: Keine Frauen an Bord des Raumschiffs (auch bei den Aliens nicht!) oder die Fortschrittsgläubigkeit: "Austausch des technischen Wissens in ihrer Entwicklung einen riesigen Sprung nach vorn tun würden, musste den Fremden als ebenso segensreich erscheinen wie den Menschen."
Insgesamt eine auch heute noch lesbare Geschichte, aber nicht der große Wurf.
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Catalpa »

Zu „Erstkontakt“ habt ihr eigentlich schon alles gesagt. Je länger man über die Auflösung nachdenkt, desto unpraktikabler erscheint sie und desto weniger scheint sie geeignet, das Dilemma wirklich zu lösen. Auch die häufigen Zusammenfassungen von Dingen, die man schon lange verstanden hat, wirken störend. Hinzu kommt, wie einfach es innerhalb weniger Tage gelingt, die Kommunikation mit den Fremden zu perfektionieren, sodass sogar Ironie übermittelt werden kann.

Und trotzdem fand ich die Story ziemlich vergnüglich und würde sie zu den besseren der Zusammenstellung zählen. Gut gelungen finde ich, wie Leinster alles auf Seiten der Menschen 1:1 auf Seiten der Fremden spiegelt. Sie haben denselben Entwicklungsstand, sie verfolgen dieselbe Forschungsmission, es handelt sich für beide um den ersten Kontakt mit einer fremden Spezies, sie kommen in jeder Situation zu exakt denselben Schlüssen und ringen genauso um eine friedliche Lösung. Diese Spiegelung wird auch auf der Figurenebene weitergeführt. Der menschlichen Hauptfigur, die die Kommunikation mit den Fremden führt, steht auf der anderen Seite jemand gegenüber, zu dem er im Laufe der Handlung eine Freundschaft aufbaut (im Übrigen die einzigen beiden Figuren in der Geschichte, die einen Namen haben). Außerdem gibt es die beiden Kapitäne, die vor denselben Problemen stehen.

Zusammenfassend würde ich daher sagen, geht es in der Geschichte um die Begegnung des Menschen mit sich selbst und darum, dass diese Begegnung nur dann nicht tödlich ausgeht, wenn wir uns irgendwie austricksen. :)

Die abschließende Geschichte von Judith Merril ist nur kurz und ich habe sie direkt anschließend gelesen. Wollen wir hier nahtlos anschließen?
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Teddy »

Ich mach dann mal Nägel mit Köpfen:

Judith Merril - Nur eine Mutter ...

Judith Merrils Geschichte unterscheidet sich deutlich von den anderen Erzählungen dieses Bandes. Hier steht eine gewöhnliche Frau im Mittelpunkt, auf die die Geschehnisse der Welt einstürzen: Die schwangere Margaret macht sich sorgen um ihr ungeborenes Kind, da ständig Berichte über Fehlbildungen an Föten und Morde an fehlgebildeten Neugeborenen in der Presse stehen. Dies scheint mit einem Krieg, in dem Atombomben zum Einsatz kommen zusammenzuhängen. Nach einem Zusammenbruch hat sie eine Frühgeburt. Sie versorgt das Baby allein, da ihr Mann aufgrund des Kriegs ständig abwesend ist. Das Kind entwickelt sich geistig rasant, kann schon nach einigen Monaten sprechen. Als der mann nach 8 Monaten nach Hause kommt, ist das Kind auf dem geistigen Entwicklungsstand eines Vierjährigen. Allerdings stellt der Mann erschreckt fest, dass das Kind keine Gliedmaßen besitzt, was seine Frau aber vollständig verdrängt.
Auch von Erzählstil her hebt sich diese Geschichte von den anderen ab. Vieles wird nicht explizit erzählt sondern nur angedeutet. Die Ängste der Frau werden durch inneren Monolog vermittelt, die Entwicklung des Kindes erfährt man durch Briefe der Frau an ihren Mann. Die gesamte Zeit streut Merril kleine Ungereimtheiten ein, die ein ungutes Gefühl aufkommen lassen und das Ende vorbereiten.
Von erzählerischen Standpunkt finde ich die Geschichte sehr gelungen, aber die Grundaussage gibt einem schon ein schlechtes Gefühl. Klar möchte niemand ein behindertes Kind, aber mit welcher Selbstverständlichkeit hier die Behinderung als wertlos dargestellt wird, erinnert schon fast an die Nazidoktrin. (Wobei Judith Merril natürlich alles andere als rechtsgerichtet ist. Es geht hier nur um diesen einen Punkt.)
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Catalpa »

Teddy hat geschrieben:Von erzählerischen Standpunkt finde ich die Geschichte sehr gelungen, aber die Grundaussage gibt einem schon ein schlechtes Gefühl. Klar möchte niemand ein behindertes Kind, aber mit welcher Selbstverständlichkeit hier die Behinderung als wertlos dargestellt wird, erinnert schon fast an die Nazidoktrin. (Wobei Judith Merril natürlich alles andere als rechtsgerichtet ist. Es geht hier nur um diesen einen Punkt.)
Das finde ich deutlich zu hart. Die Erzählung schildert eine Gesellschaft, in der die Menschen mit den massiv auftretenden Mutationen bei Neugeborenen heillos überfordert sind. Ich finde aber nicht, dass hier eine Nazi-Ideologie vermittelt wird. Immerhin steht im Mittelpunkt eine Frau, die ihr Kind liebt. Allerdings verdrängt sie die Mutationen des Kindes. Diese Situation kann man nun auf zwei verschiedene Arten interpretieren:
  • Positiv gesehen als bedingungslose Liebe. Die Mutter nimmt die Mutationen des Kindes gar nicht wahr. Sie sind nicht wichtig. Alles was zählt ist das Kind, und das es ihm gut geht.
  • Negativ gesehen als fehlgerichtete Liebe. Wäre die Mutter klar im Kopf, so könnte sie dieses Kind aufgrund seiner Andersartigkeit nicht lieben.
Gäbe es nur die letzte Lesart, dann hättest du Recht. Ich finde aber, dass die Geschichte an dieser Stelle offen bleibt und es dem Leser überlässt die ethischen Fragen selbst zu entscheiden.

Die Erzählung ist 1948 erschienen und wurde offenbar unter dem Eindruck des Atombombenabwurfs auf Hiroshima und Nagasaki geschrieben. Zu der Zeit sollte die Geschichte daher sicher vor allem eine Warnung vor dem Atomkrieg sein. Aus heutiger Sicht ist jedoch das zweite Thema - die Frage nach dem Umgang mit Kindern und Föten, die in irgendeiner Form von der Norm abweichen - die interessantere und aktuellere. Ich zumindest musste an einen Artikel denken, den ich vor einiger Zeit gelesen habe und über den ich lange nachdenken musste, ohne bisher zu einem abschließenden Ergebnis gekommen zu sein: Klick
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Ender »

Puh. Das war jetzt zum Abschluss aber ein ziemlich harter Brocken.

Wie Catalpa schon schrieb, werden zwei Themen behandelt: ein für die damalige Zeit sehr typisches (Angst vor einem Atomkrieg), und eins, welches heute noch mindestens genauso aktuell ist (Umgang mit Behinderungen).
Das erste bildet den Rahmen, das zweite die sich daraus ergebenden Folgen.

Mir hat die Annahme, dass die Mutter die Missbildung ihres Kindes offensichtlich gar nicht wahrnimmt, überhaupt nicht gefallen. Dessen zweite "Anomalie", die rasante geistige Entwicklung - die man ja durchaus positiv empfinden kann - ist ihr hingegen jederzeit bewusst. Das heißt, es handelt sich also um Verdrängung bzw. selektive Wahrnehmung.
Aber zwischen "nicht wahrhaben wollen" oder "nicht darüber reden wollen" und "sich dessen überhaupt nicht bewusst sein" besteht ja noch ein gewaltiger Unterschied. Bei ihr ist letzteres der Fall, und das finde ich - bei allem Unvermögen, mich in ihre extreme Situation hineinversetzen zu können - dann doch unglaubwürdig.
Ihrem Mann nichts davon zu erzählen, halte ich noch für irgendwie glaubwürdig. Aber offensichtlich nicht zu wissen, wovon er überhaupt redet, als er es dann erfährt... Hmmm. Komisch.

Die Geschichte hinterlässt ein ungutes Gefühl. Und das meine ich jetzt nicht in Bezug auf das unangenehme Thema, sondern weil ich irgendwie nicht so recht weiß, was ich damit anfangen soll.
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Teddy »

Catalpa hat geschrieben:Ich finde aber nicht, dass hier eine Nazi-Ideologie vermittelt wird.
Um das nochmal klar zustellen: Ich auch nicht. Trotzdem kam mir sofort der Begriff des "unwerten Lebens" in den Sinn, als ich die Geschichte gelesen habe.
Ich glaube fast, dass es Merril hauptsächlich um die Gefahren des Atomkriegs ging, und zwar auch für nicht unmittelbar betroffene. Das zweite Thema, also die Einstellung zu Behinderten Kinders, wurde eigentlich kaum diskutiert.
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Catalpa »

Ender hat geschrieben:Ihrem Mann nichts davon zu erzählen, halte ich noch für irgendwie glaubwürdig. Aber offensichtlich nicht zu wissen, wovon er überhaupt redet, als er es dann erfährt... Hmmm. Komisch.
Sehe ich ebenso. Das Ende hat mich auch etwas irritiert. Realistischer wäre es gewesen, wenn sie versucht hätte, die Fehlbildungen der Tochter vor ihrem Mann zu verbergen, um so ihre Illusion einer heilen Welt aufrechterhalten zu können.
Teddy hat geschrieben:Trotzdem kam mir sofort der Begriff des "unwerten Lebens" in den Sinn, als ich die Geschichte gelesen habe.
Dass die Position des Mannes und weiter Teile der Gesellschaft (laut Zeitungsmeldungen) mit diesem Begriff treffend beschrieben sind stimmt sicherlich. Aber das ist natürlich keine Sicht, die man sich als Leser zu Eigen machen muss oder die durch die Geschichte propagiert wird.
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Re: Lesezirkel: Kurzgeschichten-Klassiker

Ungelesener Beitrag von Catalpa »

Womit es wohl an der Zeit wäre für ein Fazit.
Zunächst einmal möchte ich sagen, dass es mir großen Spaß gemacht hat, die erste Hälfte der Hall of Fame mit euch zu lesen. Auch wenn ich nicht unbedingt an jeder einzelnen Story sehr viel Spaß hatte. Ein echter Fan des Golden Age werde ich wahrscheinlich nicht mehr. Vor allem stilistisch hat die jüngere Science Fiction einfach viel mehr zu bieten.

Dennoch waren auch ein paar großartige Erzählungen dabei. Meine Top Drei (in dieser Reihenfolge):
  1. Lewis Padgett – Gar elump war der Pluckerwank
  2. Fredric Brown – Arena
  3. Stanley G. Weinbaum – Eine Mars-Odyssee
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