Leserunde Ernst Vlcek "Gib mir Menschen" ab 1.9.15

[lapismont]

Das Mädchen Zeitlos

melancholische Zeitreisegeschichte ohne in eine wirklich tragische Liebesgeschichte umzuschwenken. Unklar bleibt, warum

er seine Freundin schlägt und warum sie bei ihm bleibt. So etwas werde ich nie verstehen und die Geschichte geht da sehr locker drüber hinweg.

[Judith Rauch]

So, ich habe die erste Geschichte nun auch durch.

Es muss schwer sein, wenn mal als vor(letzter) Mensch auf Erden sich dieses Schicksal ausgerechnet mit einem schwachsinnigen Kind teilen muss - auch wenn es das eigene ist. Aber ist Sandra wirklich real gewesen oder von ihm, dank Prana, erschaffen? Wenn ich das richtig verstehe, hat er die Mutter umgebracht (ihr den Mund zugehalten und sie erstickt) bevor sie das Kind geboren hat. (Zitat: Ihr Tod war gleichzeitig deine Geburt, Sandra). Klingt so, als hätte er Sandra (Mutter) durch Sandra (Kind) ersetzt, wobei ich mich dann allerdings frage, warum er das Kind schwachsinnig "erschaffen" hat.
Hat wer eine Theorie dazu?

Und wie genau soll dieses Prana eigentlich funktionieren? Es steht zwar immer da, dass die Menschen gegangen sind, aber wohin? Haben die sich umgebracht oder sind die (samt Körper?) in eine andere Dimension verschwunden? Auch das ist mir nicht so wirklich klar.

[Judith Rauch]

Ist er selbst nun Prana-fähig? Oder ist es das Kind? Bringt wirklich jemand das Kind zurück oder ist es gestorben und träumt Martin Fred und das Kind?

Ich vermute eher ersteres, bin mir aber auch nicht sicher. Sandra ist ja offensichtlich schwachsinnig. Ich kann mir aber nicht vorstellen, wie ein schwachsinniges Mädchen ihre Prana-Gabe entdecken und dann den Plan ersinnen kann, ihren Vater zu beschwichtigen, indem es seine alten Freunde wieder auferstehen läßt. Allerdings, warum sollte Martin seine halberfrorene Tochter durch seine eigebildeten Freunde retten lassen? Offensichtlich wollte er Sandra ja loswerden.

[Uschi Zietsch]

Ich habe das mit dem Prana so verstanden, dass die Menschen sich quasi auflösen und in eine andere "Dimension" übergehen. Nicht klar wird dabei, ob die Menschen das als neue Lebensform überleben oder nicht tatsächlich sterben.

Ich finde auch die vielen offenen Fragen interessant: Lebt Marty in einer Traumwelt? Ist Klein-"Sandra" das Bindeglied zwischen ihm und Prana, halb hier, halb "dort"? Oder ist sie eine Projektion seines schlechten Gewissens? Wer projiziert seine Freunde, er oder die Kleine? Ich mag es, wenn am Ende einer Kurzgeschichte noch Interpretationsmöglichkeiten bleiben, weil das Diskussionsthemen sind.

@Lapismont: Wollen wir mit den folgenden Geschichten warten, bis alle mit der jeweils aktuellen Geschichte durch sind? Sonst kommen wir durcheinander und dein Kommentar beispielsweise geht unter, weil wir noch mit Geschichte 1 beschäftigt sind? (Es sind ja doch sehr viele Geschichten ...)

Mir hat die Titelgeschichte ausnehmend gut gefallen, sie gehört zu meinen persönlichen Top-5.

So, nachdem wir alle auf gleichem Stand sind, machen wir mit der zweiten Geschichte weiter - "Das Mädchen Zeitlos"

[lapismont]

Okay, Uschi, gibst Du dann immer den Startschuss? Ich habe nicht ganz so im Blick, wer alles mitliest.

[Shock Wave Rider]

Noch was Allgemeines: Der erste Eindruck vom Druck: Wow, ganz schön viel Tinte auf die Seiten im Groß-Paperback-Format gequetscht!
Nachzählen ergibt aber: auf jede Buchseite kommen etwa 1,35 Standard-Manuskriptseiten. Das ist am oberen Rand der normalen Textmenge pro Buchseite (liegt bei ca. 1,2 - 1,3 Standardseiten pro Buchseite), aber keinesfalls exorbitant viel.
Liegt es vielleicht an der Schrifttype? Sie erscheint mir etwas eckig, unbeholfen, manchmal raumgreifend (die Rundungen sind recht weitschweifig, die Umrandung dafür eher dünn, die Buchstabenfüße nebeneinander ergeben unruhige Basislinien etc.).*
Aber daran wird die Lektüre nicht scheitern!

Meine EIndrücke zu "Gib mir Menschen" kommen heute abend. Gelesen habe ich sie schon.

Gruß
Ralf

*Diese Beschreibung gibt noch nicht prägnant genug meine Eindrücke wieder. First draft!
Vielleicht kann ich das noch besser in Worte fassen.

[Uschi Zietsch]

Upps, ja, SWR war noch gar nicht dabei - also der Startschuss für Geschichte 2 ist hiermit zurückgenommen

Wir warten erst noch auf SWR, und dann - wohl morgen - gebe ich den Startschuss zur nächsten!

@SWR: Da bin ich überrascht über deine Bemerkungen bzgl. der Schrift. Und ja, wir betreiben keine Seitenschinderei wie Heyne & Großverlage, sondern fallen aus dem Rahmen, indem wir die Seiten befüllen Ich denke, das ist man vom Lesen der Großverlagsbücher her vielleicht nicht gewohnt. *gg* Unser Layout ist wie immer, lediglich diese größere und besser lesbare Schrift hier haben wir erst seit zwei Jahren eingesetzt.

[a3kHH]

War jetzt aber gemein, Uschi. Die armen Großdruckverlage.

Ansonsten auch von mir ein Kompliment zum Äußeren, spricht an.
Ich weiss noch nicht, wann ich dazu komme, die Stories (wieder-)zulesen, auf mich also bitte keine Rücksicht nehmen.


Als hättet ihr das jemals getan.... *Krokodilstränenrausdrücke*

[Shock Wave Rider]

Bevor ich euch aufhalte, will ich dann doch noch:

Gib mir Menschen

Durch ein undefiniertes Etwas namens Prana verschwinden die Menschen. Angeblich in eine bessere Welt. Nur Martin Korner, der vermutlich letzte Mensch auf Erden, bleibt misstrauisch und stur. Er erinnert sich, wie vor vier oder fünf Jahren seine frühere Frau Sandra auftauchte, die er schon längst als Prana-Opfer abgeschrieben hatte. Auch alle seine Freunde finden nach und nach den Weg zur Hütte, um ihn zum Pranieren zu überreden. Nach einigen Monaten entdeckt er, dass Sandra schwanger ist. Und das Kind bringt die Wahrheit über Sandra ans Tageslicht.
Die Story hat eine starke Atmosphäre; das Setting, die Stimmung, alles sehr eindrucksvoll beschrieben. Und das ist auch das tragende Element. Mir gefällt auch, wie Vlcek dem Prana ein gewisses Geheimnis lässt. Man weiß weder genau, was es ist, noch, ob es seine Verheißung erfüllt. Die Handlung ist jedoch ein wenig schematisch (ein Freund nach dem andern erscheint), an einigen Stellen hat mich der Infodump gestört. Außerdem konnte ich als erklärter Einzelgänger kaum nachvollziehen, dass Korner unbedingt andere Menschen braucht. Und es sogar in Kauf nimmt, dass es sich bei den anderen nur um Projektionen aus seinem Kopf handelt. (Wo liegt da der Unterschied zu den Selbstgesprächen?)

Von Hans Erich Nossack stammt das Zitat: "Der Mensch ist das einzige Wesen, das in der Lage ist, Zwiesprache mit sich selbst zu halten."
Ob der Mensch wirklich das einzige Wesen ist - geschenkt! Aber er kann es auf jeden Fall.
Das heißt: ein Mensch ist nie allein. Er hat immer noch sich selbst.

(Und ich bin mir sicher, Nossack war nicht der erste, dem diese Einsicht gekommen ist.)

Gruß
Ralf

[Judith Rauch]

Da Shocky sich jetzt auch schon gemeldet hat, mache ich mit der zweiten Geschichte einfach mal weiter.

Das Mädchen Zeitlos hat mir wirklich gut gefallen, eine schöne und fast schon melancholische Geschichte.

Zuerst dachte ich, dass die Geschichte eine Mischung aus -Die Frau des Zeitreisenden- und -Der seltsame Fall des Benjamin Button- sein könnte. Das, genau wie Benjamin Button, Anima in der Zeit rückwärts altert. Das würde erklären, dass Anima Albert zuerst als alte Frau, dann als Mädchen und schließlich als Kind begegnet. Aber, wenn sie eine Zeitreisende ist, ergibt sich die Sache ja von selbst und das Rückwärtsaltern ist somit vom Tisch.

Die Anzeichen das sie eine Zeitreisende ist, verdichten sich im Lauf der Geschichte immer mehr, so das ihr Erklärung am Ende auch keine wirkliche Überraschung mehr ist. Aber, auf eine Überraschung hat es Ernst, bei dem Verlauf der Story, wohl auch nicht wirklich abgesehen.

Wie bei Zeitreisegeschichten üblich, will ich gar nicht erst versuchen krampfhaft nach logischen Fehlern zu suchen. Das würde für mich so ein wenig den Spaß an der Story trüben. Da mir das Buch von Audrey Niffenegger schon gut gefallen hat, finde ich auch diese Geschichte sehr gelungen. Sie hat etwas geheimnisvolles und, wie schon geschrieben, melancholisches an sich.

Es wäre vielleicht auch mal interessant zu wissen, in welchem Jahr die Geschichten geschrieben wurden.

[breitsameter]

Es wäre vielleicht auch mal interessant zu wissen, in welchem Jahr die Geschichten geschrieben wurden.

Ja, bei dieser Geschichte hätte mich das Entstehungsdatum - und vielleicht auch die Ersterscheinung (Wo? In welchem Magazin?) - sehr interessiert. Natürlich habe ich auch an Niffeneggers Time Traveller's Wife denken müssen, aber Ernst Vlceks Variante ist natürlich viel älter und hat einen anderen Schwerpunkt. Diese Geschichte hat mir besser gefallen als die Erste. Aber sie zeigt auch deutlich, dass Ernst mehr der Phantastik als der Science Fiction verbunden war. Ihm geht es nicht um das Warum? und Wieso?, sondern um die Frage, wie es den Menschen dabei ergeht.

[lapismont]

Ihm geht es nicht um das Warum? und Wieso?, sondern um die Frage, wie es den Menschen dabei ergeht.

Aber das klärt er nicht für das Mädchen. Durch seine sehr fordernde Sicht, war mir der Protagonist nie sympatisch und verspielte den kleine Rest durch seine Schläge. Ob das nun wirklich eine tiefer gehende Analyse des Charakters darstellen soll, bezweifle ich.

[Uschi Zietsch]

Stimme zu, Florian! Also, da schon alle mittendrin sind: Es geht weiter mit "Das Mädchen Zeitlos".

Vielen Dank für deine ausführliche Meldung zu "GIb mir Menschen" (euch allen anderen auch), SWR-Ralf. Ich möchte da noch eine kleine Bemerkung dazu machen: Du lebst vielleicht als Single, aber du bist ja nicht allein. Du tauschst dich allein schon übers Netz aus, und du begegnest jeden Tag Menschen. Ich glaube, das macht einen großen Unterschied aus. Du kannst Menschen treffen, musst aber nicht. Marty aber kann keine Menschen mehr treffen. Ich bruddle ja auch gern allein vor mich hin, aber ich weiß nicht, wie es mir gehen würde, wenn ich wüsste, dass es da überhaupt niemanden sonst mehr gibt. Anderen genügen natürlich die Rehlein und Häslein um sich rum.

Die ersten beiden Geschichten sind erstmals 1980 bei Terra Astra erschienen. Ich sage die Daten zu den anderen Geschichten auch noch - aber absichtlich erst hinterher, harhar. Die beiden Ralfs allerdings können selbst nachgucken, da sie Band 2 haben.

@Alfred: Wenn du dich auch noch meldest - sehr gern! Die Leserunde an sich bleibt ja offen, nur jetzt für "diesen Durchgang" wäre es schön, wenn wir ein wenig "beieinander bleiben", damit die Diskussion nicht zerfasert - oder versandet.

Ich persönlich mag "Das Mädchen Zeitlos" auch sehr, gerade weil ich das Thema Zeit/paradoxon etc natürlich überaus liebe. Ernst hat das Thema prägnant und kurz gefasst auf den Punkt gebracht.

@Lapis-Ralf: Ja, das mit den Schlägen verstehe ich. Aber 1980 ist man damit noch ein wenig unüberlegt umgegangen. Ernst wäre es nie in den Sinn gekommen, seine Hand zu erheben, er war ein absolut friedfertiger und pazifistischer Mensch. Insofern ist es erstaunlich, dass er das geschrieben hat. An der Stelle habe ich auch gestutzt. Aber dann erschien es mir schon logisch, da der Erzähler sich selbst ja als arroganten, menschenfeindlichen Griesgram darstellt. Insofern war das konsequent durchgeführt: Diese Figur SOLL nicht sympathisch sein, aber sie ist tragisch dadurch, dass sie wenigstens eine große, nur halb erreichbare Liebe im Leben hatte.

Bin gespannt, was ihr anderen noch dazu sagt - die übrigen bitte mit der/den nächste/n Geschichten (Monika ist ja nur 1 Seite lang) noch warten, ja?

[lapismont]

ich warte

[Khaanara]

So heute früh auch noch die letzte Seite gelesen (hatte das Buch in der Firma vergessen und konnte daher die Story noch nicht abschließen)
Gib mir Menschen

Ich hatte am Ende der Story das Gefühl, dass alle Personen am Ende nur imaginär waren. Auch seine Tochter.
Aber wer sagt denn, dass er selbst nicht sein Umfeld ausgeblendet hat und vielleicht er nur das Prana erfahren hat, zum Beispiel die eingeschränkte Welt im Koma erlebt, im Tiefschlaf ist, die Welt virtuell ist oder eine ausgeprägte Form der Prosopagnosie hat.

Zumindest war der Charakter mir emotional auch sehr unsympathisch. Ein Egoist, der seine Argumente nur körperlich begründen kann.