Abgefahrene Borderline-Phantastik
Verfasst: 23. März 2011 14:34
Ich lasse mich immer gern durch fremde Leseerfahrungen anregen. Außerdem mag ich Literatur, die jeglichen Rahmen sprengt, die verrückt ist und verwirrt, die neue Welten oder Sichtweisen erschließt oder wenigstens die bisherige Welt samt Sichtweisen derselben zum inneren Einsturz bringt; Literatur, die sich nicht an Regeln oder Genregrenzen hält; Literatur wie die Filme von Lynch oder Jodorowsky ... kurz und gut: Mindfuck-Literatur. Wer also Romane, Kurzgeschichten etc. jenseits der ausgetretenen Pfade kennt und schätzt (und auf Genrezuweisungen wie "SF", "Horror", "Magischer Realismus", "Realismus" und was es sonst noch alles geben mag gut und gern verzichten kann), möge seine Lesefrüchte lauthals feilbieten! Ich würde mich ganz außerordentlich darüber freuen und mache hiermit auch gleich den Anfang:
Eins der abgefahrensten Bücher, die ich gelesen habe, ist David R. Bunch: "Moderan" (tunlichst nicht zu verwechseln mit Chris Bunch!). Das Buch ist Science Fiction, kein Zweifel - es spielt in einer Zukunft, in der Menschen ihre natürlichen Körper schrittweise durch Kunststoff und Legierungen ersetzen lassen (und am Ende ganz zu Energiewesen werden) und gleichzeitig riesige fahrende Festungen ... tja, hm, auf der einen Seite besteigen und befehligen, auf der anderen Seite tatsächlich auch sind ... als wären diese Festungen künstliche Fortsetzungen der künstlichen Gliedmaßen. Diese Festungen bekriegen sich ständig, und dieser Krieg ist Sinn, Feier, Sakrament, Zweck und Ausdruck des "neuen Lebens", zu dem sich die Menschen entschlossen haben.
Aber damit hat man das Buch nur annähernd charakterisiert. Es ist abgesehen davon derart gegen die SF gebürstet, dass mir vor Staunen der Mund offen stehen blieb. Nicht nur die Erzählweise, nicht nur die Perspektive, nicht nur der Ton (manchmal glaubt man sich mitten in Nietzsches "Zarathustra" versetzt) - trotz aller Feier des Neuen, des Technischen, des Unsterblichen und Überlegenen, trotz dieses ganzen Hurra-Futurismus wirkt es heimlich und hinterrücks deprimierend. Da hat man eine Zukunft mit unglaublichen technischen Möglichkeiten, aber der Mensch ändert sich durch all das kein bisschen. Er bleibt ein kleinliches, herrschsüchtiges, allezeit auf den eigenen Vorteil bedachtes und für die falschen Dinge viel zu schnell begeisterungsfähiges Durchschnittswesen, auch noch als Strahlenwesen. Nicht wirklich "böse", aber auch nicht "gut", in den meisten Fällen fehlgeleitet mit Anteilen eigenen Verschuldens ... ja, selbst wenn er sich gern ändern würde (weil er eben Mensch ist und als solcher zumindest auch partiell erkenntnisfähig und dem Besseren zuneigt), kann er es nicht - es ist eine Tragik. Der Weg, den er einmal eingeschlagen hat, muss bis zum Ende gegangen, der Krieg, den er einmal angefangen hat, bis zu Sieg oder Niederlage ausgefochten werden, und je weiter die Geschichte fortläuft, umso deutlicher wird, dass es weder Ende noch Sieg oder Niederlage geben wird, nicht einmal eine Art Schicksal oder Bestimmung, sondern immer nur Stationen, in denen er sich eine zeitlang provisorisch einrichten kann. Weder kann man sich selbst ändern, noch etwas an den Umständen, wenn man Moderan (so heißt das fiktive Land) einmal betreten hat. Also: Feuer aus allen Rohren! (Was soll man auch sonst tun in Moderan?!)
Das Buch kann man am besten als "Episodenroman" beschreiben. Eigentlich handelt es sich um Kurzgeschichten (sie sind wirklich kurz, so kurz wie bei Hemingway oder sogar noch kürzer), die jedoch aufeinander aufbauen. Der Protagonist, ein Ich-Erzähler (aber kein "Held" in irgendeinem Sinn), bleibt offenbar derselbe (man erfährt nicht allzuviel über ihn). Das Hauptaugenmerk liegt auf jeweils einem Aspekt dieser völlig irren Zukunft, und auch dieser Aspekt wird nur ausschnittsweise vorgestellt/behandelt. Es wird wenig erklärt (nicht wohltuend wenig im Unterschied zu so vielen breit und bräsig referierenden Science-Fiction-Autoren aus der Stephen-Baxter-Etage, sondern schmerzlich wenig), vieles muss man sich selbst zusammenpuzzeln, manches passt auch gar nicht zusammen - aber darauf kommt wenig an. Der innere Monolog ist oft lyrischer Natur (Bunch schrieb ansonsten Gedichte, im Zusammenhang von Moderan wirkt das Lyrische deplaciert, auf schwer bestimmbare Art und Weise unheimlich), er nimmt einen großen Raum ein und gibt dem Gesamtwerk eine fast autistisch anmutende Aura ... ganz so, als wolle der Autor sagen: "Nimm hin und lies, dies schenke ich dir, es sind meine Visionen aus einer fremden Welt, was du damit anstellst, bleibt dir selbst anheim gestellt." Nicht gerade die ideale Bettlektüre und auch nichts, was man in einem Tag runterschwarten könnte, aber in kleinen Dosen zu sich genommen entfaltet es eine ganz erstaunliche Wirkkraft - jedenfalls bei mir!
Wenn Frank Hebben den Freudschen Terminus "Prothesengötter" nicht für sein eigenes Buch reklamiert hätte, wäre Bunchs Buch der mit weitem Abstand heißeste Anwärter auf diesen Titel!
David R. Bunch: Moderan (Festung 10); 1971 (1974)
Eins der abgefahrensten Bücher, die ich gelesen habe, ist David R. Bunch: "Moderan" (tunlichst nicht zu verwechseln mit Chris Bunch!). Das Buch ist Science Fiction, kein Zweifel - es spielt in einer Zukunft, in der Menschen ihre natürlichen Körper schrittweise durch Kunststoff und Legierungen ersetzen lassen (und am Ende ganz zu Energiewesen werden) und gleichzeitig riesige fahrende Festungen ... tja, hm, auf der einen Seite besteigen und befehligen, auf der anderen Seite tatsächlich auch sind ... als wären diese Festungen künstliche Fortsetzungen der künstlichen Gliedmaßen. Diese Festungen bekriegen sich ständig, und dieser Krieg ist Sinn, Feier, Sakrament, Zweck und Ausdruck des "neuen Lebens", zu dem sich die Menschen entschlossen haben.
Aber damit hat man das Buch nur annähernd charakterisiert. Es ist abgesehen davon derart gegen die SF gebürstet, dass mir vor Staunen der Mund offen stehen blieb. Nicht nur die Erzählweise, nicht nur die Perspektive, nicht nur der Ton (manchmal glaubt man sich mitten in Nietzsches "Zarathustra" versetzt) - trotz aller Feier des Neuen, des Technischen, des Unsterblichen und Überlegenen, trotz dieses ganzen Hurra-Futurismus wirkt es heimlich und hinterrücks deprimierend. Da hat man eine Zukunft mit unglaublichen technischen Möglichkeiten, aber der Mensch ändert sich durch all das kein bisschen. Er bleibt ein kleinliches, herrschsüchtiges, allezeit auf den eigenen Vorteil bedachtes und für die falschen Dinge viel zu schnell begeisterungsfähiges Durchschnittswesen, auch noch als Strahlenwesen. Nicht wirklich "böse", aber auch nicht "gut", in den meisten Fällen fehlgeleitet mit Anteilen eigenen Verschuldens ... ja, selbst wenn er sich gern ändern würde (weil er eben Mensch ist und als solcher zumindest auch partiell erkenntnisfähig und dem Besseren zuneigt), kann er es nicht - es ist eine Tragik. Der Weg, den er einmal eingeschlagen hat, muss bis zum Ende gegangen, der Krieg, den er einmal angefangen hat, bis zu Sieg oder Niederlage ausgefochten werden, und je weiter die Geschichte fortläuft, umso deutlicher wird, dass es weder Ende noch Sieg oder Niederlage geben wird, nicht einmal eine Art Schicksal oder Bestimmung, sondern immer nur Stationen, in denen er sich eine zeitlang provisorisch einrichten kann. Weder kann man sich selbst ändern, noch etwas an den Umständen, wenn man Moderan (so heißt das fiktive Land) einmal betreten hat. Also: Feuer aus allen Rohren! (Was soll man auch sonst tun in Moderan?!)
Das Buch kann man am besten als "Episodenroman" beschreiben. Eigentlich handelt es sich um Kurzgeschichten (sie sind wirklich kurz, so kurz wie bei Hemingway oder sogar noch kürzer), die jedoch aufeinander aufbauen. Der Protagonist, ein Ich-Erzähler (aber kein "Held" in irgendeinem Sinn), bleibt offenbar derselbe (man erfährt nicht allzuviel über ihn). Das Hauptaugenmerk liegt auf jeweils einem Aspekt dieser völlig irren Zukunft, und auch dieser Aspekt wird nur ausschnittsweise vorgestellt/behandelt. Es wird wenig erklärt (nicht wohltuend wenig im Unterschied zu so vielen breit und bräsig referierenden Science-Fiction-Autoren aus der Stephen-Baxter-Etage, sondern schmerzlich wenig), vieles muss man sich selbst zusammenpuzzeln, manches passt auch gar nicht zusammen - aber darauf kommt wenig an. Der innere Monolog ist oft lyrischer Natur (Bunch schrieb ansonsten Gedichte, im Zusammenhang von Moderan wirkt das Lyrische deplaciert, auf schwer bestimmbare Art und Weise unheimlich), er nimmt einen großen Raum ein und gibt dem Gesamtwerk eine fast autistisch anmutende Aura ... ganz so, als wolle der Autor sagen: "Nimm hin und lies, dies schenke ich dir, es sind meine Visionen aus einer fremden Welt, was du damit anstellst, bleibt dir selbst anheim gestellt." Nicht gerade die ideale Bettlektüre und auch nichts, was man in einem Tag runterschwarten könnte, aber in kleinen Dosen zu sich genommen entfaltet es eine ganz erstaunliche Wirkkraft - jedenfalls bei mir!
Wenn Frank Hebben den Freudschen Terminus "Prothesengötter" nicht für sein eigenes Buch reklamiert hätte, wäre Bunchs Buch der mit weitem Abstand heißeste Anwärter auf diesen Titel!
David R. Bunch: Moderan (Festung 10); 1971 (1974)