Yuven hat geschrieben:Außerdem ist das ein viel zu großes Fass, um es einmal aufzumachen. Kommt mir vor wie das Science Fiction-Äquivalent zu der Frage: "Gibt es Gott oder nicht?" Da kann man sich genauso drüber zoffen und am Ende gibt es immer noch zwei Meinungen. Eine reine Glaubenssache. Deshalb nagele ich für mich lieber noch ein paar Bretter auf das Fass.
Besser hätte ich nicht illustrieren können, welche gesellschaftliche/kulturelle Funktion die SF hat. Kurz gesagt: Sie ist Religionsersatz. Eine Art des Glaubens. Eine säkulare Konfession.
Sie speist sich aus vier geschichtlichen Basiskomponenten, die sie miteinander verbindet und interpretiert:
1. Einer Philosophie, die aus Feuerbachs Religionskritik stammt, aus dem Idealismus und dem Heroismus. Feuerbach beschrieb Gott als das Spiegelbild der Menschheit (nicht des Individuums!) d.h., wenn sich die Menschen Gott vorstellen, sehen sie sich als eine Art Kollektivwesen selbst an. Wenn die Menschen Gott Unsterblichkeit, Allwissenheit usw. zuschreiben, so gilt das eigentlich für das Abstraktum Menschheit. Auch die SF hat diesen großen, globalen Blick, auch da geht es immer um die Menschheit insgesamt, nicht um Individuen (es ist ja kein Zufall, dass die Literaturkritik SF-Autoren immer die Figurenzeichnung, die mangelnde Charaktertiefe vorgeworfen hat), auch nicht um eine Menschengruppe, sondern um die Menschheit an sich. Diese Menschheit ist nicht nur da, sie hat auch eine große, heroische Aufgabe.
2. Dem Gedanken der Evolution. Dieser Gedanke wird im Sinne einer permanenten Höherentwicklung verstanden, woraus das Credo folgt: Wir sind noch nicht am Ende, es kommt noch Großes auf uns zu, wir werden noch ungeahnte Kräfte und Möglichkeiten erwerben.
3. Der Entdeckung und Eroberung der "neuen Welt", woraus die Perspektive folgt: Es gibt noch unzählige Welten zu entdecken und zu erobern.
4. Der industriellen Revolution und der Entwicklung der technischen Möglichkeiten.
Jeder einzelne Punkt kann für sich betrachtet und kritisiert werden; jeder einzelne Punkt hat selbst philosophische/ideologische Motive: Das Abstraktum "Menschheit" ist bei näherer Betrachtung doch eigenartig blutleer. Evolutionswissenschaftler würden nicht von einer "Höherentwicklung" sprechen. Zwischen der neuen Welt und Europa gab es noch 80 Jahre vor Kolumbus Kontakt durch die Normannen via Grönland, wahrscheinlich waren schon die Phönizier bis Amerika gekommen (so schon Aristoteles!), wahrscheinlich auch eine arabische Expedition im 9. Jahrhundert (Piri-Reis-Karte) ... von evtl. asiatischen Entdeckungsfahrten mal ganz abgesehen. Und die technisch-industrielle Superentwicklung der letzten 200 Jahre ist eine geschichtliche Ausnahme, keine geschichtliche Notwendigkeit; und nicht jede technische Entwicklung ist ein Fortschritt, vgl. AKWs.
Aber auch die Verbindung dieser einzelnen Punkte zu einer Gesamtschau kann hinterfragt werden, denn erstmal sind das alles nur Phänomene, die nichts miteinander zu tun haben. Erst durch die Verknüpfung durchdringen sie sich gegenseitig und bringen etwas hervor, das größer ist als die Summe der Teile. Und hinter dieser Verknüpfung steht natürlich auch eine Motivation, und zwar eine quasireligiöse Motivation. Die SF hat einen Gutteil des Bodens übernommen, den die Kirchen seit der Aufklärung verloren haben. Die Funktion ist, Hoffnung auf die Zukunft zu vermitteln. Eine Perspektive des ewigen Lebens und der Unsterblichkeit wenn schon nicht des Individuums, so doch der Menschheit an sich zu gewinnen. Den Tod zu besiegen. Und die Reaktion darauf, wenn dieser Glaube hinterfragt wird, wenn daran gerüttelt wird, gleicht exakt der Reaktion beispielsweise eines frommen Christen (und das sage ich als Theologe): "Deshalb nagele ich für mich lieber noch ein paar Bretter auf das Fass." Ein Reflex zum Schutz und zur Sicherung des Glaubens, "Abdichten", Apologetik. - Ich verstehe das persönlich nur zu gut. Aber um der intellektuellen Redlichkeit Willen rüttle ich mal ein bisschen weiter.
Diese "Glaubensgewissheit" der "SF-Gemeinde" könnte man mit dem Begriff "Fortschrittsoptimismus" zusammenfassen. Dieser ist jedoch kein gesellschaftliches Allgemeingut mehr, und deshalb ist der Resonanzraum zwischen der SF-Literatur und ihrem soziokulturellen Bezugsrahmen so schmal geworden. Es wird weiterhin fantasievolle Space Operas geben, kein Zweifel - und dennoch wird ihre Bedeutung weiterhin abnehmen. Die klassische SF hat nicht mehr viel "zu sagen". Sie hat ihre Möglichkeiten ausgeschöpft. Insofern gebe ich Michael Szameit und dem Titel des Threads Recht mit dem "Ende der SF" (zumindest der "klassischen SF"), wenn ich auch seiner Analyse nicht zustimmen kann.
Ich hätte noch viel dazu zu sagen, will aber die Diskussion auch nicht überfrachten. Soweit erstmal von mir - Ring frei.
"Hilfreich wäre es, wenn wir die, die sich dem Leistungsdruck widersetzen, bewundern, anstatt sie als Loser anzusehen." -
Svenja Flaßpöhler