Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

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Bully
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Bully »

Ich glaube, ich gehe heute abend suchen. Irgendwo muss ich das noch haben.
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Konrad
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Konrad »

Bully hat geschrieben:Ich glaube, ich gehe heute abend suchen. Irgendwo muss ich das noch haben.
Ich hab' mal "Kopernikus 4" von HJ.Alpers bestellt.
Joachim Körbers Übersetzung stammt aus dem Jahre 1981 und war damit die erste deutsche Übersetzung von Tiptrees Novelle.
Allerdings entstand sie in den ersten Brot-und-Butter-Jahren von Joachim Körbers Übersetzertätigkeit und ich befürchte, daß sie nicht berauschend ist.
Lassen wir uns überraschen.;-)
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Konrad
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Konrad »

Hat schon mal jemand die astronomischen und raumfahrttechnischen Angaben von "Houston, Houston..." nachvollzogen?
Tiptree hat sich anscheinend von den beiden deutsch/amerikanischen Circumsolar-Missionen Helios I und II (1974 und 1976) inspirieren lassen.
Wenn man einen Zeitsprung vom 19.10.xx zum 15.3.yy zugrunde legt, dann wäre der Fehlwinkel der Erdposition von der Sonne aus betrachtet ca. 145° (kreisrunde Erdbahn angenommen). Geht man von einer Position der Sunbird hinter der Sonne aus (die alte Erde sollte gerade hinter der Sonne auftauchen), dann müßte der Fehlwinkel der Erdposition von der Sunbird aus gesehen sogar noch kleiner als 145° sein.
Wie kommt Tiptree auf die 149°? :-?
Hm, brauche dringend astronomische Beratung.
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Konrad
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Konrad »

Tja, da gibt es wohl eine kleine Ungereimtheit.
Tiptree schreibt zwar, daß die Kapsel gerade *hinter* der Sonne hervor gekommen sei, für ihre Berechnungen muß sie aber eine Position *vor* der Sonne angenommen haben. Nur so ist zu erklären, daß Lorimer von einer Distanz von 78 Mio.Meilen, also 126 Mio.km ausgeht; der Abstand der Erde von der Sonne ist etwa 150 Mio.km. Wenn man dies annimmt, dann erklärt das auch den Fehlwinkel von 149°, der bei einer Position *vor* der Sonne gegenüber den 145° der Sonnenposition vergrößert ist.
Tiptree hat sich hier also vertan, erstaunlich bei der sonst so akribischen Dame. :smokin
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Konrad
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Konrad »

Habe gerade wieder mal Tiptrees Erzählung "Your Faces, O My Sisters! Your Faces Filled of Light!" gelesen.
Julie Phillips grandiose Tiptree-Biographie, wunderbar übersetzt von Margo Jane Warnken, ist für die Interpretation sehr erhellend.
Alice Sheldon hat diese Geschichte 1974 zeitgleich mit "Houston, Houston, ...", aber unter dem Pseudonym Raccoona Sheldon,
für die Anthologie "Aurora: Beyond Equality" eingereicht.
In diesem Buch stehen also zum ersten Mal beide Pseudonyme und Schreibstile nebeneinander.
Vorher sind nur zwei Erzählungen unter Raccoona Sheldon in Magazinen gedruckt worden, und die nur, weil Tiptree sie angepriesen hat und man ihm einen Gefallen tun wollte. Das muß man sich immer wieder vor Augen führen, wenn man die Schwierigkeiten richtig einordnen will, die Autorinnen damals hatten.
Die Buchveröffentlichung war für Raccoona Sheldon als Autorin der "Ritterschlag" und Sheldon spielt mit dem Gedanken, Tiptree sterben zu lassen.
Sheldon hat wohl in beiden Stories ihre Ausbildungszeit im WAAC (Women's Army Auxilliary Corps) in Fort des Moines verarbeitet.

Leider gibt es bei Franks Übersetzung von "Your Faces..." ein paar Ungereimtheiten.
Auf Seite 427 fehlen z.B. drei komplette Sätze "What's doing in the bathroom? I used it to soak my fluffbrush...", was den Abschnitt unverständlich macht.
Auch versteht man den Satz "Ich möchte auch nicht, dass du fluchst" nicht, wenn der Fluch (pure hell) nicht richtig erkennbar ist.
Auf Seite 439 wird der Sinn durch Vertauschung von "sie" und "ich" völlig verändert, denn im Original steht "but *she* wasn't listening".

In Seite 440 kommt mein Highlight der Übersetzungsschnitzer vor:
"Her husband shakes his head, performs a non-act of straightening the credit cards, putting them on another table."
Frank übersetzt das mit "...vollzieht einen Nichtakt des Aufräumens...", worüber ich als notorischer "Gschlampeter" herzlich lachen mußte.
Gemeint ist "...unterdrückt den Impuls, die Kreditkarten zu ordnen...", was den Pedanten entlarvt hätte.

Was ich ihm aber nicht verzeihen kann, ist die Ersetzung des Reklamefragments "onderbrea" durch "oldentoas".
Auch wenn hier "Wonderbread" ergänzt werden kann, ist die Assoziation mit "Wonderbra" auch im Kontext der anderen "Reklamezitate" viel logischer.
"Wonderbra", die Ikone der Pushup-BHs, stellt in der männerlosen Zukunft einen der unverständlichen (whatever that was) sinnlosen Gegenstände dar, und ist eine Kristallisation des Leitmotivs, der an Männerwünsche "angepaßten" Frau.
Die anderen "merkwürdigen" Reklameobjekte, in die sich Wonderbra einreiht, betreffen Schminke und Perücken.
Ich vermute, daß bei "onderbrea" zur Vermeidung eines Rechtstreits mit dem Wonderbra-Hersteller eine Verschleierung betrieben wurde (evtl. durch die Verlegerinnen veranlaßt).
Mit der Ersetzung durch "oldentoas" wird leider auch der poetische Bogen zum "Bra-Burner-Abschnitt" zerbrochen.

Der Titel von "Your Faces..." wirft Fragen auf.
Tiptree hat sich bei einigen ihrer phantasievollen Titel bei Poeten bedient.
Z.B. stammt "With Delicate Mad Hands" von Ernest Dowson.
Der Titel könnte also ein Zitat eines Predigers oder aus einem Gospelsong sein.
Man glaubt fast, die Orgel und den Chor zu hören.
Beautiful sisters in a joyful world.
M.E. hat Sheldon hier den "Ironiemodus" an und nimmt den pseudoreligiösen Eifer mancher Feministinnen auf den Arm.
Weitere Hinweiseschilder <Vorsicht Ironie> folgen mit dem Grinsegesicht und dem "She-cago"-Witzchen.
Selbst vor einem Slapstick-Motiv (She squeezes past a heap of old wrecked "cars" and <splash!> one foot goes in ankle-deep) macht Tiptree nicht halt.
Trotzdem will keine richtige Heiterkeit aufkommen, irgendwie ahnt man, daß dies kein gutes Ende nehmen wird.

Was Tiptree richtig gut gelungen ist, das ist die Verschränkung der beiden Wahrnehmungsebenen.
Jedenfalls ist am Ende der Story Schluß mit lustig und Tiptree macht knallhart deutlich, wohin angepaßte Gleichgültigkeit und mangelnde Frauen-Solidarität in der Realität führen.
Damit wird auch klar, warum Sheldon diese Story unbedingt unter einem weiblichen Pseudonym veröffentlichen wollte.
Eine derartige Kritik an den Frauen wäre bei einem männlichen Autor als anmaßend abgelehnt worden.
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Konrad
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Konrad »

Reden wir doch mal über die Form der Veröffentlichung.
Es gab mal Zeiten, da waren Erläuterungen der Verleger Usus, z.B. über amerikanische Besonderheiten, die der deutsche Leser nicht kennt.
Warum findet man das überhaupt nicht mehr?
Gerade von einer hochpreisigen bibliophilen Reihe, die sich an spezielle Liebhaber richtet, würde ich das erwarten.
Ich hatte z.B. Schwierigkeiten mit den Hiawatha-Zitaten und hätte mir da vom Verleger etwas Unterstützung bei der Interpretation gewünscht.

Wie seht ihr das?
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Konrad
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Konrad »

Der Autor von "The Song of Hiawatha" ist Henry Wadsworth Longfellow, ein Mann, für den der Begriff "Lionism" erfunden sein könnte.

https://commons.m.wikimedia.org/wiki/Fi ... n_1868.jpg

https://commons.m.wikimedia.org/wiki/Fi ... w_1860.png

Nachdem mir immer noch nicht ganz klar ist, wie Tiptree ihre Hiawatha-Zitate gemeint hat, hier ein Autor,
der dazu eine klare Meinung hat: Lewis Carroll

http://www.people.virginia.edu/~ds8s/carroll/hia.html
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Konrad
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Konrad »

Hmm, der Fred ist mindestens so tot wie die Protagonistin, wenn nicht noch töter... :kaffee_muede:
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Flossensauger
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Flossensauger »

Lesen tu' ich ihn gerne, da ich auch das Buch bzw. die Stories verehre. Freue mich auch über den Erkenntnisgewinn hier , gerade mit deinen neusten Entdeckungen.

Nur ein posting um des posting willens absenden tue ich nicht. Hab' leider nix zu sagen im Moment. Das hilft dir auch nicht weiter, oder?

Vielleicht kann man ja Frank Böhmert über Face-book anschreiben (habe ich nicht) und er postet doch wieder mal hier im Forum (was ich sehr begrüssen täte)?
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L.N. Muhr
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von L.N. Muhr »

Frank böhmert doch nicht auf Facebook rum.
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Konrad »

Ich denke, er wird hier schon mitlesen.
Einem Übersetzer geht es wie dem Autor, ist das "Werk" erst in der Welt, muß man mit Kommentaren dazu leben.
Der eine mag es, der andere nicht.
Der Künstler muß dazu nicht Stellung nehmen.

M.E. gibt es zu den Übersetzungen viel zu wenig öffentliche Kritik.
Wahrscheinlich mit ein Grund, warum die Verleger den Übersetzern so wenig zahlen.
Ein Buch mit schlechtem Papier oder verschmiertem Druck würde niemand akzeptieren.
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Konrad »

Kommen wir zurück zur Interpretation der Story.
Was mich an Tiptrees Erzählungen immer wieder fasziniert ist die Realitätstreue, mit der auch phantastische Komponenten ausgearbeitet wurden.
Bei dieser Geschichte ist der Wahn der Protagonistin das phantastische Element und der Fokus liegt natürlich in der Auslebung dieses Wahns.
Dazwischen findet man Indizien für eine plausible Erklärung wie dieser Wahn entstanden sein könnte.
Offenbar hat die Protagonistin ein Baby, wie aus den Äusserungen des Vaters (S. 441, schwach übersetzt, denn im Original steht "baby") zu entnehmen ist.
In ihrem Wahn spricht sie darüber, daß sie evtl. "auch irgendwann mal Mutter"* (S. 426) werden könnte, "aber vorläufig nicht"*. Beklagt sich über die ständig fragenden Schwestern mit ihrem Gerede über Babys (S. 436), die sie evtl. in Zukunft haben wolle, aber natürlich noch nicht jetzt.
Der Wahn einer männerlosen Zukunft ist, was die Protagonistin selber angeht, offenbar eine Regression in eine Vergangenheit vor der Mutterschaft.

Dies gibt Raum für die Vermutung, daß der Wahn durch eine Wochenbettpsychose (post-partale Psychose) entstanden ist.
Sheldon hat ja in Psychologie promoviert und dürfte Psychosen studiert haben.
Laut einiger Internetartikel zur Wochenbettpsychose sind offenbar wahnhafte Symptome kennzeichnend. In der Regel ist eine Einweisung in eine psychiatrische Einrichtung erforderlich. Bei schweren Fällen wird auch die Elektrokrampftherapie eingesetzt.
Für die Vermutung spricht auch die Imagination einer angstfreien Welt als Befreiung von einer angstbesetzten Gegenwart einer jungen Mutter mit einem Baby.

Die Protagonistin hat sich also in einen Jugendtraum zurückgezogen.
In diesem Kontext bekommen auch die anderen Bestandteile der Erzählung einen Sinn:
Die Freude am Laufen, am Durchstreifen der Welt, die man erforschen will.
Der Traum aller jungen Mädchen, die Anschaffung eines Pferdes.
Und Last but not Least die Hiawatha-Zitate.

Sie sind die Verkörperung der heilen Welt, die Erinnerung an die Kindheit, als die Eltern ihr Gutenachtgeschichten
vorgelesen haben, wenn sie sich ängstlich vor unbekannten Nachtgeräuschen unter die Bettdecke verkrochen hat.
"Es sind doch nur Eule und Eulchen, die sich in ihrer Sprache unterhalten"
Die Zitate sind ausschließlich aus dem Kapitel "Hiawathas Kindheit", das früher regelmäßig kleinen Kindern vorgelesen wurde. Amerikanische Leser könnten dazu sicher noch mehr sagen.
Longfellows Epos war mal Pflichtlektüre in amerikanischen Schulen, ob das heute noch so ist, weiß ich nicht.

Sie spricht davon, daß manche Schwestern so schön reden, dies aber nicht ihre Sache ist.
Sie würde nur wissen, wann sich etwas richtig anfühlt.
Hier erschwert ein Übersetzungsfehler die Interpretation.
"Maybe she's a little superficial" übersetzt Frank mit "Vielleicht ist sie ein bisschen abergläubisch".
"Superficial" heißt aber "oberflächlich", was sich im Kontext des Jugendtraums erklärt.

Interessant ist, daß die Protagonistin alle männlich geprägten Stellen weiblich ummünzt.
Hier ein Auszug aus dem Original:

Of all beasts he learned the language,
Learned their names and all their secrets,
How the beavers built their lodges,
Where the squirrels hid their acorns,
How the reindeer ran so swiftly,
Why the rabbit was so timid,
Talked with them whene'er he met them,
Called them "Hiawatha's Brothers."

Jetzt wird auch das ganze Gerede von den "Schwestern" klar.

Erstaunlich, wie Sheldon hier auch ihren eigenen jugendlichen Wunsch nach einer erfüllenden, wichtigen Aufgabe in der WAAC-Zeit eingewoben hat. Die Nachrichten im Rucksack, die Funktion als Kurier auf dem Weg nach des Moines sind Symbole dieses Wunsches.
Sheldon hat später über diese Zeit gesagt, das WAAC habe eine "Woge innerer Hoffnung freigesetzt"*, "eine Vision von Ehre, einer großen Bestimmung in einer neuen Welt"*.
Was muß die erfahrene tatsächliche Bedeutungslosigkeit der weiblichen Soldaten für eine schwärende Wunde geschlagen haben, daß Sheldon dieses Thema 30 Jahre später aufgreift.
In "Houston, Houston..." verwendet sie das Motiv der Irrelevanz gespiegelt auf die Situation der Männer.

Was Sheldon in "Your faces..." jedenfalls massiv angreift, ist der Mangel an Solidarität unter den Frauen. Dies wird in der O'Hara-Szene besonders deutlich.
Diese latente Rivalität, in der Tierwelt auch "Stutenbissigkeit" genannt, hat sie ausgiebig in der WAAC-Zeit erlebt.
Sie schreibt darüber später: "Der große Verrat an Frauen von Frauen. Härte, Verantwortung, Kaltblütigkeit, alles für Schnäppchen und Krimskrams verhökert"*.

Das Ende in der Story kommt, wie es kommen muß.
Die männerlose Zukunft entpuppt sich als Fehler und trotz der Beteuerung der Protagonistin kommt da niemand, um ihr zu helfen.
Die bittere Moral: Wer sich auf die Solidarität der "Schwestern" verläßt, ist von allen guten Geistern verlassen.

* entnommen aus Julie Phillips: "James Tiptree Jr., Das Doppelleben der Alice B. Sheldon", Septime Verlag, 2013
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Konrad »

Nochmal zurück zu "Houston, Houston...".
Habe gerade einen interessanten Artikel über Sonneneruptionen gelesen:
https://www.nasa.gov/mission_pages/ster ... nauts.html

Darin wird ein legendärer Sonnensturm im August 1972 erwähnt, der zwischen den Apollo-Missionen
stattgefunden hat und diese glücklicherweise verschont hat.

Wie es der Zufall so will, gibt es dazu sogar ein Video:
https://m.youtube.com/watch?v=9n_p4ewG418

Vielleicht war dies der Impuls für Tiptrees Idee in "Houston, Houston...".

Ich ärgere mich immer noch über die Übersetzungsschnitzer, die überall hochpoppen, wo man auch hinschaut.
"The language would have to have changed. He feels better." übersetzt Stumpf mit "Die Sprache *muss* sich
geändert haben...".
Falsch! "Die Sprache *müsste* sich geändert haben."
Hat sie aber nicht, und deshalb glaubt er nicht an die Erklärung und fühlt sich besser. :wand:
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Konrad »

Immer wieder erstaunlich, was man heutzutage mit ein paar Klicks im Internet herausfinden kann.
Ich kann mir kaum noch vorstellen, wie mühsam früher eine Recherche war.
Das muß man sich immer wieder vor Augen halten, wenn man wieder mal den Kopf
über Merkwürdigkeiten in alten Übersetzungen schüttelt.
Lese gerade die erste Übersetzung von "Houston, Houston,...", die Joachim Körber 1981 geschnitzt hat.
Würde mich interessieren, ob er Kontakt zu Tiptree hatte.
Hier gibt es übrigens ein gutes Interview mit ihm:
https://wortvogel.de/2011/09/gott-habe- ... -korber-1/
https://wortvogel.de/2011/09/niemand-si ... terview-2/

Es gab in "Houston, Houston..." ein paar Stellen, die mir keine Ruhe gelassen haben.

Da gibt es z.B. die Kudzu-Ranke, die mir unbekannt war.
Es ist eine invasive Weinranke, die aus Asien nach Amerika eingeschleppt und dort zu einem Mythos wurde.
Sie überwuchert massiv selbst hohe Bäume und ist bekannt ist als "der Wein, der den Süden aß".
Muß ein ziemliches Kroppzeugs sein. :-?

"Shit, we're outside Mercury. Bud shakes his head. " How we gonna find out who won the Series?"
Der Wortwitz spielt mit dem Planetennamen "Merkur", der auch der Name für eine berühmte Baseballzeitung ist, wie ich jetzt Dank Internet weiß.

Die Abkürzung "lurp" für das "Ortungsgerät" paßte irgendwie nicht zur Langversion "Long-Range Particle Density Cumulator Experiment". Inzwischen weiß ich, daß der Ausdruck aus dem Militär-Slang stammt, aus dem auch ein paar andere Kandidaten populär geworden sind. "Huey" für den Bell UH-1 Hubschrauber, der ursprünglich HU-1 hieß, kennt wohl jeder.
"lurp" steht für LLRP, der "Long-Range Reconnaissance Patrol", in der Bundeswehr "Fernspäher" genannt, was man als Übersetzung der von Tiptree verwendete Bezeichnung durchaus nutzen könnte.
"Aussie" ist ebenfalls Militär-Slang für die Australischen Soldaten.

"That was when Dave cut his head open on the sexlogic panel."
Hier bin ich noch nicht weiter. Meine Vermutung ist, daß das ein typischer Tiptree-Witz ist und das Panel "six logic" oder ähnlich heißt.
Kennt jemand die Hardware der Apollo-Missionen, die vermutlich Pate gestanden hat? :popcorn:
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Re: Lesezirkel HOUSTON, HOUSTON! von James Tiptree jr.

Ungelesener Beitrag von Konrad »

Kommen wir zurück zur Interpretation von "Your faces...".

Daß man hier eine Parabel über die Frauen vor sich hat, sieht man u.a. daran, daß die Protagonistin als einzige, mit Ausnahme ihres Vaters, keinen Namen hat. Sie ist der Prototyp, über dessen Eigenschaften man sich ein Urteil bilden soll. Der Titel, der ein Zitat der Protagonistin ist, richtet sich an die Schwestern; also eine Botschaft an die Frauen.
Die Botschaft wird in der Aufgabe der Protagonistin hervorgehoben, sie ist ein Kurier.
Gleichzeitig macht der Titel auf die besondere Bedeutung des Begriffs "Schwester" aufmerksam.

Hier kommen die Hiawatha-Zitate ins Spiel, die m.E. der Schlüssel zur Botschaft der Story sind.
Was mich zunächst irritiert hat, war die Feststellung, daß es eigentlich um die Lebensgeschichte eines Mannes geht, die ganz bewußt von der Protagonistin auf sich umgemünzt wird.
Hiawatha verbrüdert sich in seiner Jugend mit seinen Mitlebewesen, nennt sie fortan "Brüder".
So erklärt sich auch die Anrede "Schwester" der Protagonistin für andere Menschen.
Dieser Fokus auf die Verbrüderung, eine männliche Form der Solidarität, legt den Finger auf die Wunde in der weiblichen Mentalität, einen Mangel, den sie gerne durch Übernahme des Konzeptes beseitigen möchte.

Wodurch erreicht Tiptree die emotionale Kraft in dieser Story?
M.E. gibt es hier drei Faktoren, die man erwähnen muß:

Zum einen ist da eine unterschwellig inszenierte Assoziation der jungen Frau mit einem Kind, die den Gewaltakt umso schockierender erscheinen läßt. Diese Assoziation wird durch das naive, kindliche Urvertrauen der Protagonistin in eine beherrschbare, gewaltfreie Welt erzeugt. Die Hiawatha-Zitate knüpfen bei amerikanischen Lesern wohl an Kindheitserinnerungen der elterlichen Geborgenheit an und unterstützen so diese Assoziation. Gleichzeitig repräsentieren sie auch die "heile Welt", die wie bei den Indianern durch männliche Gewalt zerstört wird.

Weiterhin wird das Bild des "Sehers mit dem heil'gen Wahn" evoziert, ein Archetypus, der seit Urzeiten als unantastbar gilt und dessen Ermordung eine Gotteslästerung darstellt.

Und nicht zuletzt hat einen nicht unerheblichen Anteil an der Dramatik die Vorhersehbarkeit der Entwicklung.
Auch bei "Houston, Houston..." ist dieses Moment der "Unausweichlichkeit des Geschehens" sehr stark vorhanden und macht einen Reiz der Story aus. Dort wird er noch dadurch verstärkt, daß der Leser sich mit einem Protagonisten identifiziert, der mit seiner Passivität kämpft.
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