Wie künstlich ist Intelligenz? Anthologie von Klaus N. Frick

Science Fiction in Buchform
Arkron
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Wie künstlich ist Intelligenz? Anthologie von Klaus N. Frick

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(Rezension vom Blog)
Ein neuer Kleinverlag „Plan9“ bemüht sich um SF und veröffentlicht diese 10 Kurzgeschichten in einem Band unter dem Thema der Künstlichen Intelligenz.
Da mich dieser Hype beinahe täglich im Arbeitsumfeld umgibt, interessiert mich der kreative Umgang von SF Autoren damit.

Tatsächlich bietet das Thema eher ein loses Stichwort als ein definierendes Element der Geschichten darzustellen. Enttäuschend ist Eschbachs Einstieg in die Anthologie. Glücklicherweise finden sich dann einige sehr lesenswerte Perlen, wie beispielsweise Vogts „Ausstieg“. Aber auch die Story „Sandteufel“ vom Herausgeber und Perry Rhodan Chefredakteur KNF überzeugt völlig.

Insgesamt eine sehr lesenswerte Anthologie!

Inhalt (mit Spoilern):
11 • ★ • Alles Geld der Welt • 2020 • SF Kurzgeschichte von Andreas Eschbach • Zwei MIT Nerds lassen ihre KI über Nacht laufen - dressiert zum Hacken von Systemen, gräbt sie sich in Nullkommanichts bis in CIA-Rechner und Zehntausende andere kritische Netzwerke ein. Unbefriedigende, dahingeschmierte Geschichte mit etlichen Logikfehlern. Vom Autor bin ich deutlich besseres gewöhnt - unsympathische Hauptfiguren, Klischees und Trivialisierung der zugrundeliegenden Thematik machen die Geschichte unglaubwürdig bis hin zum schludrigen Ende.
41 • ★★★★ • Ausstieg • SF Kurzgeschichte von Judith C. Vogt • in ferner Zukunft versuchen die wenigen verbliebenen Menschen herauszufinden, was genau den Kataklysmus verursacht hat. Dazu starten sie Simulationen, die sie mit virtuellen, KI getriebenen Menschen bevölkern. Die virtuellen Menschen wissen nichts über ihre Künstlichkeit, sondern verursachen fleißig eine Katastrophe nach der anderen. Doch wenn eine Welt zu sehr aus dem Rahmen schlägt, wird sie abgeschaltet. Die Autor*in erzählt die Handlung packend und einfühlsam, der Handlungsträger Jonas wirkt sympathisch. Umso überraschender kommt die Wendung, dass er ein Sim ist. Als SF bedient die Erzählung alle zeitgenössisch erforderlichen Flairs, wie beispielsweise dass Jonas queer-feministisch ist - ohne jedoch von traditioneller Pronomen abzuweichen. Spielereien wie verschiedene Ablaufgeschwindigkeiten der Simulation beantworten auch den Titel der Anthologie: So natürlich die Welt mit KIs auch sein mag, es gibt immer eine Aussensicht, die die Künstlichkeit greifbar macht. Eine sehr empfehlenswerte Geschichte!
63 • ★★★★ • Der Reigen der Sandteufel • SF Kurzgeschichte von Klaus N. Frick • Ein Junge hört Sandteufel, aber niemand glaubt ihm. Also macht er sich zu ihnen auf und durchquert mitten in der Nacht die geschützte Kuppel um seine Stadt auf dem Mars. Er weiß sich in sicherer Hand, beschützt durch eine wohlwollende KI. Trotz all der Technizität und Rationalität hat der Junge das Träumen nicht verlernt. Genau das macht diese hervorragende Geschichte aus - der SF Leser findet hier eine träumerische Schilderung in harter Umgebung, weiche Töne statt Konfrontation. Die Selbstverständlichkeit, mit der der Junge über die KI nachdenkt, erscheint für den heutigen Leser etwas verstörend, aber letztlich ist die KI nur Schmuck am Rande der Geschichte. Fraglich ist für mich, wieso gerade der Herausgeber der Anthologie die zentrale Fragestellung um KIs nur am Rande streift.
81 • ★★★+ • Johanna • SF Kurzgeschichte von Stefan Lammers • Huiii. Eine KI namens Johanna wird als Traumaassistenz trainiert, die Menschen vom versuchten Selbstmord abbringen soll. Johanna begegnet einem Mann, der gerade im Begriff steht, sich ins Wasser zu stürzen. Erfreut macht sich Johanna ans Werk. Sie entdeckt, dass der Mann tatsächlich eine Putzfrau ist, die sich ins Labor eingeschlichen hat und nun im Cyberspace kritische Fragen stellt. Können sich KIs umbringen? Wann wäre das sinnvoll? Und welche Daten werden den KIs vorenthalten? Johannas Charakter wirkt mit all ihren "Huiiis" zunächst naiv, findet aber schnell in ihre Rolle.
95 • ★★★+ • Crashtestdummys • SF Kurzgeschichte von Jannis Radeleff • Thomas arbeitet als "Crashtestdummy" und überprüft, ob von KIs gesteuerte Autos rechtzeitig vor ihm als Passant zum Stehen kommen. Kollegen von ihm in der Haushaltsabteilung mühen sich mit KI Kochtöpfen ab, oder in der Waffenabteilung mit bio-verschränkten Pistolen. In der Pause tauscht er sich mit Kollegen aus und freut sich auf ein luxuriöses Abendessen mit Anja. Radeleff bringt einen Plot durchdrungen von ich-bewussten KIs mit einer interessanten Wendung am Schluß. Der Großteil der Geschichte dient der Gestaltung der Welt, dabei bleibt der Spannungsbogen etwas zu kurz. Trotzdem ist die Geschichte mit einem interessanten Protagonisten und außergewöhnlichem Einsatz von KIs lesenswert.
107 • ★★★ • Eine völlig legale Kiste? • SF Kurzgeschichte von Nele Sickel • Malte hält Zwiegespräch mit seinem neurologischen Implantat, eine KI, die ihm wie ein Smartphone hilft, ihn aber auch bei der Auswahl von Flirtpartnern hilft. Eigentlich wollte er in eine zwielichtige Bar, aber als die KI wieder aufwacht, sind sie in einer noch fragwürdigeren Umgebung. Amüsante Kurzgeschichte mit zu detaillierten Unterhaltungen und vorhersehbaren Ende. Direkteste Antwort auf die Fragestellung der Anthologie!
125 • ★★★+ • Wagners Stimme • SF Kurzgeschichte von Carsten Schmitt • Wagner trainiert einen KI-Assistenten, der ihm hilfreich Anweisungen und Erinnerungen einflüstert. Die melancholische Erzählung zeichnet den Verlauf seiner Alzheimer Erkrankung nach, und die zunehmende Vertrautheit und Stütze seiner KI. Der völlig andere Tonfall erweitert die Bandbreite der Anthologie erheblich, auch wenn die Geschichte an sich nicht herausragend ist.
147 • ★★★ • Daheim • SF Kurzgeschichte von Gundel Limberg • Ein australischer Architekt stattet sein Haus mit einer KI und vollständiger Gebäudeautomatisierung aus, das ihm und seiner Familie das Leben so angenehm wie möglich machen soll. Nach seinem Ableben wird es von einem Museum in Potsdam gekauft und nach Deutschland versetzt. Das intelligente Haus muss sich sehr umgewöhnen, da es keine Bewohner mehr hat, sondern ständig wechselnde Besuchergruppen. Die Geschichte überzeugt mit den amüsanten Konsequenzen, die das Haus vollbringt. Erwartungsgemäß eskaliert die Situation und endet nach einigen überraschenden Wendungen in einem etwas vorhersehbaren Finale. Der eigentliche Protagonist ist das Haus, das zunehmend anthroposophiert wird. Eine unterhaltsame, aber unspektakuläre Geschichte, die einen weiteren Lebensbereich aufzeigt, in dem KI führend sein werden.
167 • ★★★ • Die Sapiens-Integrale • BDO SF novelette von Michael Marrak • Diese längere Geschichte entführt den Leser an Bord eines Raumschiffs zum Lagrange 3 Punkt, genau gegenüber der Erde auf der anderen Seite der Sonne, dort wo früher eine Gegenerde vermutet wurde. Ein Notsignal führt die Besatzung dorthin, doch zu ihrem Erstaunen finden sie tatsächlich einen Planeten vor und beginnen, ihn zu erkunden. Denn eigentlich ist es unmöglich, dass dort ein Planet existiert - das würde zu erheblichen Abweichungen in Navigationen führen. Die Schiffs-KI bringt Theorien mit erstaunlich hohen Wahrscheinlichkeiten hervor. Klar ist, dass dieses Big Dumb Object nicht aus dem Sonnensystem stammt.
Marrak würfelt etliche Theorien - Dyson-Sphären, Multiversen und ähnliches - zusammen, dass es eine wahre Freude ist, in dieser Geschichte zu versinken. Leider ist der Spannungsbogen zu abgehakt und bedarf mehr Raum, sich zu entfalten. Bei der Besatzung stellt sich kein klarer Handlungsträger heraus, und die Sprünge zwischen den Protagonisten werden durch die knappe Form ebenfalls zu sehr eingeschränkt. Gute Story mit zu wenig Platz, gerne würde ich die satte Geschichte in einem eigenen Roman lesen. Doch der Aspekt der künstlichen Intelligenz verschwindet beinahe völlig, und ich bin beinahe versucht, „Themaverfehlung“ zu rufen. Fans des Autors wird das nicht sonderlich stören. Aber neben Eschbachs Beitrag ist dies eher eine Enttäuschung, obwohl die Geschichte an sich gut ist.
201 • Nachwort: Deep Future — Erzählte Zukunft ohne weisse Kaninchen?• Essay von Reinhard Karger
Zuletzt geändert von Arkron am 4. Dezember 2020 21:27, insgesamt 2-mal geändert.
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Re: Wie künstlich ist Intelligenz? Anthologie von Klaus N. Frick

Ungelesener Beitrag von Naut »

Sehr ausführlich, aber der Text enthält ein paar Spoiler - vielleicht könntest Du die maskieren.
Arkron
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Re: Wie künstlich ist Intelligenz? Anthologie von Klaus N. Frick

Ungelesener Beitrag von Arkron »

Klar, wird gemacht :)
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Re: Wie künstlich ist Intelligenz? Anthologie von Klaus N. Frick

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Nebenbei noch die Anmerkung, dass sich der Verlag ohne Leerzeichen schreibt: "Plan9".

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Re: Wie künstlich ist Intelligenz? Anthologie von Klaus N. Frick

Ungelesener Beitrag von Arkron »

My. hat geschrieben: 4. Dezember 2020 19:49 Nebenbei noch die Anmerkung, dass sich der Verlag ohne Leerzeichen schreibt: "Plan9".

My.
Servus My, Danke für den Hinweis!
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Andreas Eschbach
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Re: Wie künstlich ist Intelligenz? Anthologie von Klaus N. Frick

Ungelesener Beitrag von Andreas Eschbach »

Mir gefielen die Geschichten "Wagners Stimme" und vor allem "Daheim" am besten.
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Badabumm
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Re: Wie künstlich ist Intelligenz? Anthologie von Klaus N. Frick

Ungelesener Beitrag von Badabumm »

Danke für die ausführliche Inhaltsangabe.
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Harald Lesch
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