Dystopien sind reaktionär!

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Uschi Zietsch
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von Uschi Zietsch »

Kringel hat geschrieben: 29. Oktober 2024 08:58 Ich bin Uschis und LNs Meinung, muss aber zugeben, dass ich Dystopien seit ein paar Jahren nicht mehr so gern sehe / lese wie früher. Happy End muss schon sein, sonst bin ich traurig.
Das sowieso. Die ganze Welt brennt, da brauch ich keine Dystopien und keine Krimis, die schlecht ausgehen, undundund. Ich will und brauche Happyend, ich will Leute sehen/über sie lesen, die cool sind, die Dinge in die Hand nehmen und alle retten. Ich brauche positiven Eskapismus, um wieder Kraft zu tanken für den Alltag. Keine Frage.
Aber das hat mit WeepingElfs Aussage an sich ja nichts zu tun. Dystopien schüren nicht meine Ängste, sie ziehen mich noch weiter runter, als ich eh schon bin, rein stimmungsmäßig. Zukunftsängste hab ich nur durch die Realität.
:bier:
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Andreas Eschbach
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von Andreas Eschbach »

Ender hat geschrieben: 29. Oktober 2024 09:15 Aber bei den normalen Film-, Games- und Buchkonsumenten (also uns allen) bleibt doch, mindestens unbewusst, irgendwie hängen: Zukunft = das wird übel.
:kopfkratz:
Hmm – zu welcher Prognose würde man kommen, würde man keine Filme, Games und Bücher konsumieren? Sondern nur Nachrichten?
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Ender
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von Ender »

Da kommt man zu dem Schluss: es IST übel :zombie:
Aber wie schon gesagt wurde: natürlich sind Dystopien nicht alleinige Ursache oder Auslöser für eine negative Sicht. Aber da sie sich ja gerade mit der Zukunft befassen und diese da besonders düster gezeichnet wird (also noch wesentlich düsterer als die Gegenwart), kann doch durchaus etwas hängen bleiben. Dann also lieber nix ändern, da weiß man wenigstens, was man hat.
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WeepingElf
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von WeepingElf »

Genau das meine ich. Die nahe Zukunft wird in den Massenmedien fast immer negativ dargestellt - sei es in dystopischen Romanen und Spielfilmen, sei es in Dokus über die Klimakrise und andere Probleme. Ich kenne jedenfalls nicht viele Bücher, in denen - als Fiktion oder als Sachbuch - konkret dargestellt wird, wie wir die Probleme lösen könnten, und Filme so gut wie gar nicht (es gibt ein paar Dokus, aber Spielfilme habe ich noch keinen gesehen).

Diejenigen, die die Probleme lösen wollen, kommunizieren größtenteils falsch - da werden Schreckensszenarien an die Wand gemalt, und es heißt, wir müssen dies oder das tun - ist nicht so gemeint, aber es klingt wie "Wir wollen es ja selbst nicht, aber es muss leider sein, tut uns leid". Das motiviert nicht! Oder schlimmer noch: ihr müsst, das klingt nach "Wasser predigen und Wein trinken". Zum Teil wird auch falsch zugespitzt, wenn es etwa auf Fridays-for-Future-Kundgebungen heißt, es werde gar nichts gegen die Klimakrise unternommen - falsch, denn es wird zwar noch zu wenig unternommen, aber immerhin etwas, was es auszubauen gilt. Ich habe auf solchen Kundgebungen auch schon Redebeiträge hören müssen, wo ganz ernsthaft die sozialistische Planwirtschaft aus der Mottenkiste geholt wurde. Als wäre die DDR ein ökosoziales Paradies gewesen, als hätte es kein Bitterfeld und keine Schwarze Pumpe gegeben. Geht's noch, oder soll ich einen Arzt rufen? Und über Suppenanschläge auf Kunstwerke und ähnlichen Dönkes brauchen wir hier gar nicht erst zu reden, denke ich. Das trägt nur dazu bei, die Klimaschutzbewegung als einen Haufen Chaoten zu diskreditieren. Da braucht sich dann niemand über Wahlen zu wundern, bei denen die AfD mehr als doppelt so viele Stimmen bekommt wie die Grünen.
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Kringel
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von Kringel »

Ich weiß nicht, für mich klingt das absurd. Kinogänger / Leser wollen Unterhaltung, keine Wohlfühlpropaganda, würde ich behaupten. Jedenfalls möchte ich nie wieder so einen einschläfernden Quark lesen wie Kim Stanley Robinsons "Das Ministerium für die Zukunft". Dystopien - wenn wir denn wirklich bei diesem Begriff bleiben wollen - geben einfach mehr her für gute Storys. Zumindest kann ich mir nicht vorstellen, dass aus der Idee, einen T-800 in die Vergangenheit zu schicken, damit er Sarah Connor zeitlebens vor zudringlichen Verehrern abschirmt, ein spannender Actionfilm hätte werden können.
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L.N. Muhr
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von L.N. Muhr »

Hier ist eh zu unterscheiden zwischen Dystopie und Postapokalypse. Beide haben Schnittstellen, sind aber nicht identisch. Terminator gehört deutlich mehr in den postapokalyptischen Teil als in den Dystopischen. Faustregel:

Wenn die Welt untergeht, ist es Apokalypse. Wenn sie untergegangen ist, ist es Postapokalypse. Und wenn sie nicht aufhört, unterzugehen, ist es Dystopie.

Weeping Elf spricht noch ein anderes Element an, das er zwar offenbar weiß, aber ignoriert: des einen Utopie ist des anderen Dystopie. Des einen Planwirtschaft ist des anderen Kapitalismus.

Drei simple Beispiele, jeweils mit der Frage: Utopie oder Dystopie?

- Die USA verbieten das private Tragen von Schußwaffen.
- Massentierhaltung wird abgeschafft und Tierfleisch astronomisch hoch besteuert.
- Das Internet wird deprivatisiert, Netzkonzerne enteignet.

Drei großartige Backgrounds für Erzählungen, aber wären diese utopisch oder dystopisch? Und hinge das von der Intention des Autors ab oder der Wahrnehmung des Lesers? Es kann ein Autor eine in seinen Augen brillante Utopie schreiben, die von vielen lesern als völlig dystopisch wahrgenommen wird. Ayn Rand hat das getan, hüstel.

Wenn die Regel lautet, dass Dystopien in der Tendenz reaktionär sind, wie passen solche Wahrnehmungswidersprüche in das Muster? (Spoiler: Gar nicht.)

Und um nochmal auf das Planwirtschaftsbeispiel zurückzukommen: der Kapitalismus ist generell unfähig, Umweltkatastrophen zu lösen, weil er vom Individuum ausgeht, statt von der Gemeinschaft. Bisher wurde, soweit ich das im Kopf habe, jede Umweltkatastrophe gegen den Willen der kapitalistischen Logik bereinigt - oder gar nicht bereinigt. Planwirtschaft auf der anderen Seite erweist sich dann als unfähig, Umweltkatastrophen zu bereinigen, wenn sie nicht darauf ausgerichtet ist - Stichwort Ostblock. Mal davon abgesehen, dass ich hier keine Dichotomie am Werk sehe, sondern zwei von diversen möglichen Beispielen, schiene mir bei der Wahl zwischen etwas, das garantiert nicht funktioniert, und etwas, das vielleicht funktioniert, rein rational letzteres die bessere Wahl. Die halbe Utopie ist womöglich besser als die ganze Dystopie.

Im Übrigen sollten wir uns von der Idee verabschieden, dass es ein Konzept für alle Menschen und alle Zeiten gibt. Das ist der Fehler, den auch viele Utopien machen, sie entwerfen irgendwas, und das steht dann und berücksichtigt nicht den Wandel der Zeit. Das ist wie mit Gerechtigkeit (und alle Utopien sind letztlich Gerechtigkeitssuchen): es gibt kein statisches Rezept für Gerechtigkeit, es gibt nur Annäherungsformen, und man muss ständig austarieren, neu verhandeln, den Kurs ändern.

Dagegen gibt es halt ein definitives Rezept für Ungerechtigkeit, und das heisst: weiter so, egal was kommt.
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von Uschi Zietsch »

Utopie ist sowieso die Horrorvision der Dystopie.
Niemand kann und will in etwas leben, in dem alles perfekt ist für jeden, und zwar global, nicht auf kleinen Raum begrenzt. Komplette Gleichschaltung kann bei individualistisch geprägten Wesen nicht funktionieren.
Irgendeiner wird immer das Stänkern anfangen.
Star Trek, Perry und Orion versuchen sich darin und kommen dem schon sehr nahe, wenn man das aber ganz genau durchdenken würde, käme man schnell auf Schwachstellen und letztendlich würde es wahrscheinlich auch nicht so funktionieren, wie es szenarisch in kurzen Schlaglichtern dargestellt wird. Um das zu vermeiden, werden Gegner von außen kreiert, die alles plattmachen wollen.
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von Kringel »

Uschi Zietsch hat geschrieben: 29. Oktober 2024 14:18 Niemand kann und will in etwas leben, in dem alles perfekt ist für jeden
Genau - deswegen haben ja auch die ersten Versionen der Matrix nicht funktioniert :)
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L.N. Muhr
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von L.N. Muhr »

Och, die jetzige läuft doch super.

... ups, verplappert.
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von Doop »

Ich lese gerade Hans Freys „Vision und Verfall: Deutsche Science Fiction in der DDR“ und weiß daher, dass Dystopien in der DDR von offizieller Seite, also von der Partei, als reaktionär betrachtet wurden. Und dass das also Unfug ist, denn die Partei, die Partei hatte niemals Recht.
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von L.N. Muhr »

Und dennoch erschienen Bücher mit dystopischen Ansätzen in der DDR, allerdings als verschleierte Satiren auf die DDR. Ich sag nur Timothy Truckle und Wilhelmine.
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von Shock Wave Rider »

Doop hat geschrieben: 29. Oktober 2024 16:04 [...], denn die Partei, die Partei hatte niemals Recht.
Aber sie hat uns doch alles gegeben, Sonne und Wind, und sie geizte nie. Wo sie war, war das Leben. Was wir sind, auch wir Wessis, sind wir durch sie.
Das muss wahr sein, weil es so im Internet steht. (klick!)

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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von Flossensauger »

Man könnte sich sehr lange über die perfekte Welt und die Utopie von Iain M. Banks "Culture" Universum unterhalten.
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von Shock Wave Rider »

Flossensauger hat geschrieben: 29. Oktober 2024 16:48 Man könnte sich sehr lange über die perfekte Welt und die Utopie von Iain M. Banks "Culture" Universum unterhalten.
Ich kann da kaum mitreden. "Bedenke Phlebas" habe ich nach rund 100 Seiten wegen Langeweile abgebrochen.
Weiter bin ich in jenes Universum nicht eingedrungen.

Gruß
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Re: Dystopien sind reaktionär!

Ungelesener Beitrag von Kringel »

Flossensauger hat geschrieben: 29. Oktober 2024 16:48 Man könnte sich sehr lange über die perfekte Welt und die Utopie von Iain M. Banks "Culture" Universum unterhalten.
...oder über das von KIs regierte Polis-Universum bei Neal Asher. Wer in dieser Welt lebt, muss sich mehr oder weniger damit abfinden, von den KIs quasi als Haustier behandelt zu werden, profitiert aber von Frieden und Rundumversorgung. Ist das dystopisch oder utopisch?
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