Hi zusammen,
"Karuga" soll ein episodischer SF-Roman werden, der Anklänge von Cyberpunk und Abenteuer à la Hunter Thompson in sich trägt, mit ein bisschen Humor und ohne wissenschaftlichen Anspruch. Ich poste hier mal die ersten drei Kapitel und freue mich über Feedback.
Kapitel 1: Galgalotte
Mit einer Fluppe im Mundwinkel, dem Hoden in der Linken und dem Steuerrad in der Rechten führte der Schmuggler Karuga die Meistnitzer durch die Schwärze des Raums. Das Schiff hatte eine feine Schnauze und einen dicken Hintern, in den zwei Vierhunderttonnencontainer Platz fanden. Sie sah auf den ersten Blick aus wie jeder andere schrottige Lasttransporter, aber in ihrem Bauch trug sie einen illegal starken Nachbrenner und in ihrer Brust eine wunderschöne Dreißig-Millimeter-Kanone – so eine mit rotierenden Läufen, die beim Feuern ein schnurrendes Brrrrrr und Fußkribbeln verursachte.
Der Innenraum des Cockpits war nur anderthalb Meter breit und vier Meter lang. Karuga hatte es sich gut eingerichtet – zum einen, weil ihn sein Beruf zwang, viel Zeit dort zu verbringen, zum anderen, weil es der einzige Ort im Schiff mit echten Glasscheiben war, durch die man die Sterne vorbeiziehen sehen konnte. Das Kernstück war ein Sofa, das zwar längs stand, aber die Breite des Raumes beinahe ausfüllte. Seinen hellblauen Spannbettbezug hatte Karuga seit Monaten nicht mehr abgezogen. Davor stand ein vollgemüllter Couchtisch, und hinter der Couch ein kleiner Schreibtisch und ein großer Drehstuhl, mit rissigem schwarzen Leder bespannt. Von diesem Stuhl aus konnte Karuga alle Knöpfe und Schieberegler des Cockpits (außer den einen, der vom Schreibtisch verdeckt wurde) sowie den Laptop bedienen, auf dem der Rest der Schiffssteuerung lief.
Dutzende religiöser Figürchen zierten den Raum: auf dem Couchtisch, der Armatur, dem Boden. Karuga hatte sie über viele Jahre seiner Tätigkeit hinweg angesammelt, denn auf den isolierten Stationen, wo er sein Schiff betankte, waren die Leute meist religiöse Spinner irgendeiner Art. Für sie waren die Figuren Ikonen oder Glücksbringer oder Beweise einer Pilgerreise – für ihn nur ein Hobby. Nichtsdestotrotz waren sie ihm ans Herz gewachsen.
Da gab es eine Art Ganesha mit Tentakeln, drei etwas unheimliche, von katholischer Ikonografie inspirierte Maskenträger, zwei Krebsmonster, eine in sich verknotete Schlange mit vielen Köpfen (das war die feingliedrigste und teuerste Figur) und einen Bären mit einem Baumstumpf, der ihm aus dem Nacken wuchs. Woran die Leute eben so glaubten. Der tentakelige Elefant war aus Plastik – so hatte die Sammlung angefangen. Seitdem jedoch hatte Karuga nur noch Figuren aus Metall gekauft. Die älteren Exemplare hatten schon Staub und Zigarettenasche auf ihren Oberflächen angesammelt.
Im Aschenbecher lagen drei ausgegangene Zigaretten, die Karuga angezündet und dann vergessen hatte. Leise verfluchte er sich dafür, eine elfstündige Route ohne Stopps eingeplant zu haben. Aber da konnte man jetzt nichts mehr machen. Er öffnete die Augen und nahm sich vor, ab jetzt nicht mehr wegzunicken. Die Station sollte ja bald auftauchen. Er schielte auf seinen leeren Kaffeebecher.
Träge setzte er den linken Arm in Bewegung, um den Knopf des Wasserkochers zu drücken, der sich hinter dem Laptop verbarg. Um Energie zu sparen, sammelte der Arm auf dem Rückweg gleich eine der ausgegangenen Zigaretten und das Feuerzeug ein.
Da blinkte etwas in der endlosen Schwärze vor der Glasscheibe. Oder war es nur die Flamme des Feuerzeugs gewesen, eine Reflektion in der Scheibe? Nein, da war es wieder – ein blaues Leuchten. Ein Docksignal in der Ferne, endlich. Die Spannung fiel von Karuga ab, und er atmete tief aus.
Der Pilot war erst in seinen Dreißigern, wurde aber gerne auf Anfang fünfzig geschätzt. Mit sechzehn hatte ihn zum ersten Mal jemand ein »Schlägergesicht« genannt, und seitdem war seine Nase durch mehrere Brüche noch knubbeliger und schiefer geworden. An seinem Körper hingen verschiedenfarbige Reststücke aus Altkleidercontainern der Raumstationen herunter, diese Woche ein marineblaues T-Shirt und eine graue Jogginghose.
Das blaue Blinken kam näher. Karuga drückte den Knopf neben einer kleinen Lampe, die im selben Blauton zu leuchten begonnen hatte, und befahl damit dem Schiff, dem Signal zu folgen und dort zu docken. Nach ein paar Sekunden wurde das Licht größer, beim nächsten Blinken war das Cockpit ganz von blau-weißem Licht umhüllt. Und als dieses Licht verblasste, befand sich das Schiff plötzlich auf einer Luftstraße durch die Stadt Galgalotte.
Die Geräuschkulisse explodierte für Karuga, der seit Tagen nur das Brummen seines eigenen Schiffes gehört hatte. Die Luftstraße lag nur fünfzig Meter über dem Boden, knapp über den Dächern der dicht gedrängten Gebäude aus kupferbraunem Stahl und Glas. Auf vielen der Flachdächer tanzten Menschen, und die Luft war voller wummerndem Vierviertel-Bass. Hinter einem rußigen Wolkenschleier ging eine rote Sonne unter. Karuga lächelte.
Das Schiff nahm Verbindung zum Einreisebüro auf und spielte eine Bandansage ab. Von Trompeten untermalt erzählte ein gut gelaunter Mann:
„Willkommen in Galgalotte, wo es jeden Tag des Jahres etwas zu feiern gibt. Heute ist der zwölfte Tag des Sonnenwendefestes. Wenden Sie sich für mehr Informationen an das Tourismusbüro. Aus rechtlichen Gründen muss ich Sie darauf hinweisen, auf Ihre Wertsachen zu achten. Genießen Sie Ihren Aufenthalt!“
Dann begann eine andere, trockenere Stimme:
„In Galgalotte gilt universales Gemeinrecht Klasse B2 bei gleichzeitiger Anwendung der Sanktuariumsklausel von …“
Karuga drehte die Lautstärke auf null.
Das Transportschiff navigierte sich selbstständig durch die Luftstraßen voller anderer Frachter, Freizeitkreuzer und Personentransporter unterschiedlichster Form und Farbe.
Karuga verglich die Zieladresse, die der Laptop anzeigte, mit der handgeschriebenen in seinem Notizbuch und grunzte zufrieden. Das Schiff bog in ein Industriegebiet ab, dominiert von weißem Rauch aus weißen Schornsteinen und heruntergekommenen Lagerhallen. Eine dieser Hallen, mit der weißen Blockschrift »MENDELSSOHN LOGISTIK«, war sein Ziel.
Die Luftstraße führte an einem schwebenden Pförtnerhäuschen vorbei, besetzt mit einem ledrigen Herrn in blauer Kappe, der eines nach dem anderen die wartenden Frachtschiffe abfertigte. Karuga vertrieb sich die Zeit mit Kaffee, Zigaretten und der Beobachtung des bunten Treibens in der Stadt, bis er endlich an der Reihe war und das Fenster herunterkurbelte.
„Name?“, blökte der Mann, ohne von seinem Klemmbrett aufzusehen.
„Karuga.“
„Nee, von Ihrem Schiff. Zum ersten Mal in der Stadt?“
„Ja. Die Kleine hier heißt Meistnitzer.“
„Meistnitzer, Meistnitzer …“, murmelte der Wärter eine Weile und blätterte in seinen Dokumenten. Dabei kaute er auf einem Bleistift, der schon ganz durchgenudelt aussah.
„Okay. Da hab ich Sie. Sie liefern für die Bayerische Pharma und holen ab für die Müllentsorgung.“
„So ist es.“
„Frachtpapiere?“ Er streckte die Hand aus dem Fenster.
Karuga hielt den sogenannten Aktentresor, einen Metallquader von der Größe eines Tischtennisballs, an die Handfläche des Mannes. Ein Sensor piepste, und der Drucker im Pförtnerhaus sprang an.
Der Mann ließ sich Zeit damit, die Blätter zu studieren. Karuga schloss die Augen und döste fast wieder ein. Schließlich schnippte der Pförtner mit den Fingern, um ihn aufzuwecken, und sah ihm zum ersten Mal direkt in die Augen.
„Sie gehen jetzt in die Dekontamination. Sie wissen, wie das abläuft?“
„Klar weiß ich das.“
Unbeeindruckt fing der Pförtner trotzdem an zu erklären:
„Im Schiff bleiben, während abgeschrubbt wird. Dann wird bedampft. Auf keinen Fall Fenster aufmachen.“
„Ich kenn das Spiel.“
„Ich sag’s ja nur zur Sicherheit, junger Mann. Im Schiff bleiben, ausruhen – wir klopfen, wenn wir fertig sind. Fenster und Türen geschlossen halten. Wir empfehlen das Motel Duna Duga, da kriegen Sie Trucker-Rabatt.“
„Verstanden.“
Der alte Mann gab ihm einen Daumen hoch und klopfte dann zweimal auf die Außenwand des Schiffes, wie um es auf die Reise zu schicken. Tatsächlich schien das Schiff zu verstehen und setzte sich holprig wieder in Bewegung.
Die Einfahrt in die Lagerhäuser erinnerte Karuga an die Geisterbahnen seiner Kindheit: dunkle Tunnel, ominöse Maschinengeräusche, einsam blinkende Lichter, in deren Schein die Ausmaße der Räume nur zu erahnen waren. Das holprige Starten und Anhalten und Starten des Schiffes, während es sich durch die Gänge und über steile Rampen kämpfte. Die Dekontaminationskammer selbst war stockdunkel. Karuga rauchte eine letzte Zigarette, ihr Glimmen der einzige Lichtpunkt im warmen Schwarz, bevor er sich auf das Sofa legte und sofort einschlief.
Die Angestellten des Lagerhauses klopften schließlich wie versprochen an die Tür, und Karuga durfte seinen Raumlaster endlich verlassen. Er wurde von einem jüngeren Mann in blauem Overall durch ein Labyrinth enger Betongänge geführt, hinter deren Türen sich muffige Büros verbargen. Kurz vor dem Ausgang fragte der Mann, ob Karuga noch auf einen Kaffee bleiben wolle – obwohl sie kaum ein Wort gewechselt hatten. Karuga folgerte, dass es nicht um freundliche Konversation ging, und folgte ihm in ein abschließbares Zimmer. Er lag richtig.
Der Mann im blauen Overall fragte ihn ohne Umschweife, wo die Ware zu finden sei, und nannte das richtige Codewort. Karuga zeigte ihm auf dem ausgedruckten Scan des Frachtcontainers die Position des Aspirinfasses – das kein Aspirin enthielt. Der Mann drückte Karuga ein Bündel Scheine in die Hand.
„Ich bin auf dem Weg nach Molech“, sagte Karuga, als sie sich die Hände schüttelten, um den Handel abzuschließen. „Ich habe da drüben einen Abnehmer für gutes Kokain. Habt ihr was für mich?“
Der Mann schüttelte den Kopf. „Musst du dir selbst suchen.“
Galgalotte hielt, was es versprochen hatte. Am ersten Abend besuchte Karuga eine schmierige Bar, die sich gleichzeitig als luxuriös darzustellen versuchte. Der Laden hieß »Diamant« und sein Kernstück war ein gigantischer Kronleuchter – mit falschen Diamanten, natürlich. Karuga trank viel Whiskey, sah den hübschen Frauen beim Tanzen zu, tanzte selbst ein bisschen mit, kehrte für mehr Whiskey an die Bar zurück, wurde von einem Dealer angesprochen und kaufte ein Päckchen Kokain. Das Zeug war aber zu klebrig, und Karuga vermutete nach der ersten Line, dass es eigentlich zum Großteil aus Amphetaminen bestehen müsse. Er warf den Rest in den Mülleimer und zog weiter.
In einer Hafenkneipe, in der Männer mit Schminke und Frauenkleidern Karaoke sangen, konnte er besseres Kokain finden, aber auch diese Probe genügte nicht ganz seinen Qualitätsansprüchen, und er warf den Großteil wieder weg. Um sieben Uhr morgens kehrte er in das erstaunlich gemütliche Motel Duna Duga zurück und schlief bis zum Nachmittag.
Am zweiten Tag schlenderte er durch die Stadt, bis er an einem Busbahnhof eine lebendige Drogenszene antraf und nach ein paar kurzen Gesprächen wieder einen Koksdealer fand. Zunächst wurde ihm ein Plastiktütchen voller Waschpulver in die Hand gedrückt, also packte Karuga seinen Geschäftspartner am Kragen und redete eine Weile im Ton einer wohlgemeinten, aber strengen Ermahnung auf ihn ein, während dieser sich windend und flehend aus seinem Griff zu befreien versuchte. Die Situation wurde etwas gefährlich, als sich eine Traube anderer Junkies um sie bildete, die bereit waren, den ihren zu beschützen. Doch Karuga dosierte seine Aggression bewusst, sodass sie ihn für bedrohlich, aber halbwegs vernünftig hielten – und der risikoärmste Weg darin bestand, ihm einfach die Drogen zu geben, für die er bezahlt hatte. Das schwer erkämpfte Kokain war übrigens furchtbar.
Nach einem Abstecher in ein Bekleidungsgeschäft betrat Karuga in seinem frischen Sakko einen Schnöselclub, in dem die Männer Sonnenbrillen trugen und die Frauen so kurze Röcke, dass man den halben Hintern sehen konnte. Auch hier wurde er nicht fündig. Ziemlich betrunken wanderte er durch die Seitengassen, weg von der Partymeile, und fand sich schließlich in einer Kaschemme namens Bayou wieder. In diesem muffigen, schattigen Laden kaufte er wieder ein Päckchen Koks, zog auf der Toilette eine große Nase davon und war zum ersten Mal seit seiner Ankunft in Galgalotte gut gelaunt.
Er hatte es direkt von der Bardame gekauft, einer robusten, aber hübschen Mittvierzigerin mit ledriger Haut und einem Tattoo im Gesicht. Sie war mit Bierzapfen beschäftigt, also nahm Karuga an der Bar Platz und wartete.
Die Kunden waren ein Haufen unrasierter Männer mit breiten Schultern und dicken Bäuchen, alle sehr betrunken. Die Bardame musste sehr laut sprechen. Es war faszinierend, ihr bei der Arbeit zuzusehen – sie jonglierte förmlich mit ihren Gästen, sprach immer mit irgendjemandem im schnellen Wechsel und verteilte innerhalb einer Minute eine aufbauende Umarmung, drei mütterliche Ermahnungen und einen Witz, der die Männer vor Lachen ihre Bäuche halten ließ.
Als sie endlich ihren Blick in Karugas Richtung wandte, grinste der sie breit an; die beschwingende Wirkung des Kokains hatte sich ausgebreitet. Sie legte sich das Spültuch über die Schulter und schlenderte zu ihm herüber.
„Mehr?“, fragte sie.
„Mehr“, bestätigte Karuga freundlich.
Sie griff in die Hosentaschen, da sagte er: „Warte“ und bedeutete ihr, ein wenig näher zu kommen. „Wie heißt du?“
„Katja.“
„Ich bin Karuga. Und wenn ich mehr sage, meine ich wirklich mehr.“ Er lächelte verschwörerisch.
Sie schüttelte den Kopf und nahm das Spültuch von der Schulter, um beiläufig den Tresen abzuwischen. „Sowas machen wir hier nicht. Du kriegst noch mal für zwei, drei Hundert, mehr nicht.“
„Ich wage zu behaupten, dass es sich eigentlich um eine Preisfrage handelt“, grinste Karuga. Das Koks war wirklich gut, das merkte er an seiner gestochenen Ausdrucksweise.
Katja sah ihn abfällig an. Karuga versuchte zu überzeugen: „Ich gehöre zur Organisation.“
„Welche?“
„Das große A.“ In diesen Breiten wusste jeder Mensch, dass damit die Firma Ashintur gemeint war, eine der großen Vier, die die reißenden Geldströme des organisierten Verbrechens unter sich aufgeteilt hatten. Karuga war übrigens technisch gesehen kein Lasterfahrer, sondern ein Senior Logistikberater.
Katja musterte Karuga sorgfältig. Dann sagte sie: „Wir machen um fünf für ein paar Stunden dicht. Wenn du dann vorbeikommst, können wir reden.“
Karuga ließ der Dame, die er zunehmend charmant fand, ein stattliches Trinkgeld da und vertrieb sich die Zeit mit einem Stadtspaziergang, auf dem er sich weiter betrank und immer mal wieder ein wenig Koks vom kleinen Finger schnupfte. Es war halb drei Uhr morgens, und die Stadt feuerte aus allen Rohren.
Ein sehr betrunkener junger Mann pöbelte ihn an, als er ihn versehentlich an der Schulter streifte, und Karuga freute sich, denn er hatte auf eine Gelegenheit gehofft. Er machte ein paar tänzelnde Schritte und hob die Fäuste, gerade lang genug, dass der besoffene Jungspund ebenfalls die Fäuste hob und es so als Kampf gelten konnte. Natürlich hatte der Junge keine Chance – beschissene Deckung, beschissene Haltung, wacklig auf den Füßen. Karuga täuschte links an und verpasste dem jungen Herrn eine meisterhafte Überhandrechte, die ihn von den Füßen riss. Bei schwachen Gegnern kam es Karuga auch auf die Eleganz beim Knockout an, nicht nur auf das Ergebnis. Und dieser hier war ein hübscher gewesen.
Die vier Kumpane des Opfers schrien herum und plusterten sich auf, doch der Schmuggler sah an ihrer Körpersprache, dass sie nichts versuchen würden, schenkte ihnen ein großzügiges Lächeln und ging seines Weges. Karuga hatte den pochenden Schmerz in seiner Rechten vermisst wie einen alten Freund, der zu selten zu Besuch kam. Der Pöbler lag auf dem Asphalt und blutete aus dem Mund.
Zum BAYOU kehrte er schließlich um Viertel nach vier zurück, nach einer Flasche Cola und einem dicken Schnupfer Koks – beides zum Ausnüchtern. Neben Katja waren da noch zwei grimmig aussehende Männer im Raum. Ein Dritter machte halbherzig die Tische und Böden sauber. Er trug dabei dicke Kopfhörer. Die beiden Grimmigen schienen Katja zu gehorchen und sprachen nur, wenn sie sie direkt anblickte. Karuga hatte korrekt vermutet, dass diese Bardamensache irgendwas zwischen Hobby und Verkleidung war. Der Laden gehörte Katja.
Auf die freundliche Bitte der Schergen hin hatte Karuga sich bis auf die Unterhose entkleidet. Er musterte seinen Körper im Spiegel – die knorrige Definition seiner muskulösen Beine, seinen breiten Rücken. Er spannte den Bizeps, dann den Nacken.
Die Männer interessierte das nicht. Sie knieten an seiner Seite, musterten seine Haut und ermahnten ihn wieder und wieder, endlich stillzuhalten. Einer murmelte verärgert: „Der ist doch besoffen, warum schleppt sie so einen an?“, was ihm eine Rüge von Katja einbrachte. Danach taten die Männer schweigend und konzentriert ihre Arbeit.
Karuga kannte das Spiel. Es ging um die auf seinem ganzen Körper verstreuten Tätowierungen, mittlerweile über zwanzig. Sie zeigten alle ein stilisiertes A, etwa von der Größe einer Handfläche, jedes einzigartig. Manchmal war es ein simples Design, manchmal verschnörkelt oder verspielt. Ein A formte eine Rakete, ein anderes die Wurzeln eines Baumes.
Die Buchstaben auf seiner Haut waren allesamt Logos der Firma Ashintur, eine Chronik ihrer Rebrandings, die mindestens einmal im Jahr, meistens aber öfter stattfanden. Katjas Schergen prüften sie auf Echtheit. Logischerweise mussten die älteren Logos etwas verblasst sein, aber die Firmentätowierer verwendeten auch eine spezielle Farbe und Nadel, deren genaue Handschrift schwer zu imitieren war. Mit ein bisschen Erfahrung konnte man echte Tattoos von falschen unterscheiden, und das Risiko, das mit falschen Tattoos einherging, war erheblich. Denn niemand wurde von Ashintur Universal Partners and Solutions Limited schärfer verfolgt als diejenigen, die sich mit falschen Tattoos als Mitarbeiter ausgaben und dem exzellenten Ruf des Verbrechersyndikats damit schadeten.
Die Männer gaben sich schließlich zufrieden, schrieben Karugas Mitarbeiternummer auf, tauschten sechzehn goldene Zambanos gegen zwei Einkilopakete ihres Kokains ein und wurden von Katja nach Hause geschickt. Karuga und sie teilten eine Flasche Amaretto und hatten noch etwas ungeschickten, aber trotzdem guten Sex auf dem Tresen, bevor ihre Wege sich trennten.
Zurück im Motel Duna Duga versteckte Karuga das Koks in einem Lüftungsschacht, legte sich ins Bett und schloss befriedigt die Augen.
Den letzten Tag in Galgalotte verbrachte er damit, das Schiff zu putzen, die Lebensmittelvorräte aufzufüllen und so weiter. Er nahm dabei sehr viel Kokain, denn er lebte sein Leben nach festen Regeln und Prinzipien, und eine davon war, nie mit Drogen zum eigenen Gebrauch in der Tasche sein Schiff zu führen. Folgerichtig und pflichtbewusst arbeitete er also daran, die gefährlichen Substanzen restlos zu vernichten, bevor er die nächste Etappe seiner Reise antreten würde. Außerdem ging so die verhasste Putzarbeit schneller von der Hand.
Er kippte eimerweise Waschmittel auf die Böden und wischte zumindest den gröbsten Dreck mit einem Mop auf, berührte einige Oberflächen kurz mit einem Staubwedel, kratzte den Hauptteil der eingetrockneten Bolognese von der Herdplatte – all das meistens mit einer Fluppe im Mundwinkel. Er machte drei Ladungen Wäsche, füllte den Wassertank und kaufte einen großen Vorrat an Dosenfleisch, Bohnen, Fruchtgummis und Malzbier.
Der septische Tank – so hieß im Schiffssprech der Behälter unter der Toilette – musste abgepumpt werden, und wie so oft gab es beim Abnehmen des Schlauches irgendeinen seltsamen Druckausgleich, der eine kleine Explosion aus flüssiger Scheiße auslöste. Karuga verfluchte laut den Hersteller dieses verdammten Ventils und spritzte erst die Schiffshülle mit Wasser ab, bevor er selbst unter die Dusche ging und die Kleidung wechselte.
Der letzte Schritt war die Frachtkontrolle. Karuga legte einen hermetisch versiegelten Ganzkörperanzug aus orangenem Gummi an, bevor er durch die kleine Hintertür die neuen Frachtcontainer betrat, die die Mitarbeiter von Mendelssohn in den letzten Tagen aufgeladen hatten.
Der erste der beiden Container barg keine Überraschungen – randvoll mit Fässern und alten Plastikplanen, überzogen von einem klaren Schleim, dessen faul-süßen Geruch Karuga noch durch die Gasmaske spürte. Klassischer Giftmüll. Karuga war eigentlich kein Senior Logistikberater, sondern Senior Transportexperte für toxische und ansteckende Wertstoffe. Den Abfall aus Städten wie Galgalotte abzutransportieren war sein Steckenpferd; und Schmuggelware in Giftmüll zu verstecken, war sein eigener genialer Einfall gewesen. Er musste so die Kontrollpunkte nicht aufwendig umschiffen, denn die Kontrolleure hatten nie vernünftige Anzüge und immer Angst vor den Dämpfen.
Überraschenderweise war der zweite Container fast leer – er enthielt nur ein einziges Fass mit orangenen Warnstickern. In Molech würde Karuga also nur die halbe Giftmüllprämie kassieren können. Wutentbrannt stampfte er durch die Büros des Logistikunternehmens, bis er den Verantwortlichen gefunden und zur Sau gemacht hatte. Es war aber nichts zu machen; es hatte irgendeinen Planungsfehler gegeben, und jetzt musste Karuga mit halber Fracht aufbrechen, sonst würde er zu spät kommen.
In den vom Syndikat Ashintur organisierten Pflichtseminaren für Mitarbeiter, die Karuga mit brennendem Widerwillen immer wieder absolvierte, fiel oft der Satz: „Es gibt in unserer Arbeit keine Krisen, denn jede Krise ist eine Herausforderung, und jede Herausforderung ist eine Chance.“ (Tatsächlich wurden von der Nachrichtensoftware der Firma diese Worte automatisch ersetzt, sodass zwischen Mitarbeitern immer nur von Chancen gesprochen werden konnte.)
An diesen Spruch musste er jetzt denken, denn ein quasi leerer Frachtcontainer auf einer geplanten und offiziellen Route war vielleicht wirklich eine Chance. Karuga witterte Geld, denn er könnte auf dem Weg noch etwas über den ursprünglichen Plan hinaus mitnehmen – sogar etwas Großes, vielleicht Autos, ein paar Paletten Schnaps, was auch immer, Hauptsache billig kaufen und teuer verkaufen. Er musste nur auf einer der Tankstationen, die auf der Route zwischen Molech und Galgalotte lagen, etwas finden.
Kapitel 2: Klosterbrocken
Von den ersten Sonnenstrahlen des Tages gestreichelt, zogen die Wolken über den kleinen Raumhafen. Karuga saß auf einem Aluminiumstuhl, und auf dem Aluminiumtisch davor standen zwei leere Espressobecher, die – natürlich – aus Aluminium bestanden. Die Luft roch penetrant nach gar nichts.
Die Siedlung namens Klosterbrocken war ein furchtbarer, steriler, zutiefst lebensfeindlicher Ort. Doch Karuga hatte größere Sorgen.
Auf den ersten zwei Stopps hatte er keine Fracht finden können. Klosterbrocken war die letzte Gelegenheit, noch etwas aufzutreiben, das er in Molech teurer verscherbeln konnte – doch die Chancen standen schlecht. Wie viele dieser isolierten, auf Asteroiden gebauten Stationen war Klosterbrocken voller gläubiger Spinner.
Die Religion – hier eine Abwandlung des christlichen Puritanismus – hatte die ganze Kultur infiziert. Die Menschen trugen alle nur Braun und Beige, die Gebäude Weiß, und nichts war lackiert. Alle Bleche zeigten die Farbe von Blech, alle Tassen, Teller und Fahrräder die von trübem Chrom.
Hier reihten sich Kirchen an Gymnastikstudios und furchtbar langweilige Arbeitsplätze, etwa das Forschungsbüro eines Staubsaugerherstellers. Niemand stellte interessante Waren her; der Ort lebte quasi von seiner Schiffstankstelle. Wie sollte man hier etwas finden, das es wert war, verkauft zu werden?
Karuga hatte schon erwogen, den leeren Container mit Benzinkanistern zu füllen, denn für klassischen Sprit gab es auf Molech eine große Nachfrage. Eine Übergangslösung war dort zum Dauerzustand geworden, und sie verfeuerten Benzin zur Stromerzeugung. Doch die Preise schwankten ständig.
Er konnte in den Trucker-Cafés niemanden finden, der gerade aus Molech gekommen war und eine Ahnung von den aktuellen Benzinkursen hatte. Am Ende entschied er sich gegen das Benzin, weil er nicht riskieren wollte, auf einem Verlustgeschäft sitzen zu bleiben.
Alle Rauschmittel – sogar Alkohol – waren in diesem Asteroidenkaff schwer verpönt und schwierig zu bekommen. Karuga konnte auch keine Figur für seine Sammlung suchen, denn eine vom Klosterbrocken besaß er schon: eines dieser dicken Kinder mit Engelsflügeln, aus Aluminium natürlich. Eine zweite vom selben Ort hätte gegen seine eigenen Sammlerregeln verstoßen.
Er fragte in den Cafés und Kirchen nach Transportaufträgen oder Waren, gab sich besonders freundlich und täuschte sogar Frömmigkeit vor – alles ohne Ergebnis. Der beste Tipp, den er bekam, war eine Schnapsbrennerei, die einen einzigartigen, verdauungsanregenden Kräuterschnaps herstellte. Karuga stattete ihr einen Besuch ab und stellte enttäuscht, aber wenig überrascht fest, dass die „Einzigartigkeit“ des Schnapses darin bestand, dass er Abführmittel und keinen Alkohol enthielt. Unverkaufbar.
Am letzten Abend, bevor sein Schiff wieder aufgeladen und startklar sein sollte, wurde ihm so langweilig, dass er beschloss, die Trinkerszene zu finden – es gab immer eine, egal wie versteckt.
Und tatsächlich fand er sich einige Stunden später auf einem Acker wieder, auf dem jemand einen Dieselgenerator und ein Soundsystem aufgestellt hatte. Die Menschen tranken Kartoffelschnaps mit Orangensaft aus Tetra-Paks. Es lief ein House-Beat; die Leute tanzten, rauchten, redeten, knutschten herum. Es gab eine Schlägerei ohne ernsthafte Verletzungen, und irgendjemand begann mit blinkenden chemischen Leuchtstäbchen zu werfen, die bald den ganzen Acker in schillerndes Neon tauchten.
In bereits fortgeschrittenem Rauschzustand lief Karuga dort ein Engel über den Weg – eine Erscheinung mit pechschwarzem Haar und Lidstrich, porzellanweißer Haut und schmalen, funkelnden Augen hinter dem schwarzen Kajal. Karuga konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden.
Sie bewegte sich tänzelnd durch ihre Freunde hindurch, lächelte breit und verschwörerisch, wedelte mit einem Päckchen weißen Pulvers. Furchtbar nuttig und gleichzeitig mit einem gewissen Szene-Chic angezogen. Er war verliebt.
„Hey!“, schrie Karuga, die Hände zu einem Megafon geformt. Sie sah zu ihm herüber. „Hast du was zu verkaufen?“
Es stellte sich schnell heraus, dass sie tatsächlich etwas zu verkaufen hatte. Sie war eine kleine Drogenhändlerin, und so kamen sie ins Gespräch.
Karuga starrte ihr beim Reden ein paar Mal auf die Brüste – ohne schlechtes Gewissen, denn ihre Augen wanderten ständig seinen Bizeps auf und ab. Sie redeten über Koks; er berührte beiläufig ihre Schulter, sie darauf weniger beiläufig seine Hüfte.
Vielversprechend, doch dann passierte etwas Ungeplantes: Sie erwähnte beiläufig den psychologischen Stress, den man als Berufskrimineller so auf sich nehmen musste. Karuga stieg darauf ein – und plötzlich war ihr besoffener Flirt zu einem richtigen Gespräch geworden.
Sie teilten sich ein wenig Amphetamin und saßen zwei Stunden später immer noch zusammen am Feldweg. Die unmittelbare sexuelle Spannung war verflogen, verdrängt von etwas Größerem, für das beide eigentlich keine Zeit und keinen Raum besaßen.
Die Kleine hieß Ella und war gefährlich, wieselhaft und leicht wie Luft. Sie reparierte am Tag Gitarren und verkaufte Speed in der Nacht. Für die Welt als Ganzes fühlte sie leidenschaftliches Unverständnis, wie eine gestrandete Fee von ganz woanders. Wenn sie lachte, wechselte sie chaotisch zwischen Kichern und Gackern, und nach einem besonders großen Lacher musste sie sich schütteln wie ein nasser Hund.
Karuga fühlte dieses Unverständnis auch in sich, glaubte aber, einen gänzlich anderen, pragmatisch-distanzierten Umgang damit kultiviert zu haben. Sie verglichen akribisch ihre Herangehensweise an die Welt.
„Ich versuche es zu befreien, du versuchst es zu zähmen“, brachte sie es langsam, Wort für Wort, und mit erhobenem Zeigefinger auf den Punkt. Vielleicht hatte der Kartoffelschnaps oder das Speed etwas damit zu tun – aber für Karuga waren das in diesem Moment die schönsten und wahrsten Worte, die jemals gesprochen wurden.
Dann redeten sie lange über Sex: wie man guten Sex nie herbeiführen, sondern nur passieren lassen könne; wie schlechter Sex meistens trotzdem irgendwie gut war – außer er war wirklich furchtbar. Und dann sehr detailliert über ihre Präferenzen.
Es war eine Ersatzhandlung, denn sie hatten im stillen Einverständnis beschlossen, dass ihr Flirt zu tiefgängig war, um in einem ungemütlichen Fick im feuchten Gras zu enden. Es hätte schon ein richtiges Bett gebraucht, in dem sie auch zusammen aufwachen konnten.
Doch Ella musste in zwei Stunden bei der Arbeit sein, und Karuga musste in zwölf Stunden die letzte Etappe seiner Route antreten. So sahen sie sich ein wenig traurig in die Augen, als die Sonne aufging, und erlaubten sich noch ein zwanzigminütiges, heftiges Herumfummeln im Sitzen.
Sie erleichterte sich den Abschied mit Spiritualität, flüsterte einen Gebetsspruch in sein Ohr, den Karuga nicht verstand, und wünschte ihm einen ebenen Weg.
Karuga nahm sie in den Arm und flüsterte, dass es schade sei, dass ihre Wege sich nur kreuzen konnten. Die Worte auszusprechen tat weh, doch er wollte sich keine falsche Hoffnung darüber machen, dass sie sich unter günstigeren Umständen wiedersehen könnten.
„Zeit ist eine flache Scheibe“, zwinkerte sie, schulterte ihren Rucksack und ging davon, ohne sich noch einmal umzusehen.
Karuga blieb noch eine Weile und ertränkte seine Sehnsucht und Geilheit in Kartoffelschnaps.
Auf dem Heimweg, gegen zehn Uhr morgens, hatte Karuga Schwierigkeiten, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Seine Beine schienen überzeugt, dass alle drei Schritte ein spontaner Ausfallschritt nach rechts notwendig sei. Ein weiter, impulsiver.
Karuga sah ihn immer kommen, konnte ihn aber nicht verhindern. Mehrmals hatte ihn dieser Tick schon ins Stolpern und beinahe zu Fall gebracht. Einmal war er bis zum Hals in einer Hecke gelandet – aber nicht umgefallen.
Mit dem Instinkt einer Hauskatze torkelte er durch die Straßen des verschlafenen Örtchens aus Aluminium und fahlweißem Beton, gesäumt von weiß gestrichenen Jesuskreuzen, und kam genau beim Raumhafen im Zentrum an.
An der Ecke gab es ein Café für die ankommenden Trucker, und er beschloss, sich dort noch einmal den Bauch mit Pfannkuchen vollzuschlagen, bevor er sich in sein Schiff legen und bis zur Abfahrtszeit durchschlafen würde.
Die grelle Beleuchtung des Cafés irritierte seine müden Augen. Alles schien unscharf, leicht wabernd. Karuga vermutete, dass der Kartoffelschnaps – entweder durch absichtliche Zugabe oder stümperhaftes Brennen – mehr als nur Alkohol enthalten hatte. Es wäre nicht seine erste zeitweise Erblindung durch Selbstgebrannten.
Der Schmuggler sackte in einem Alustuhl in sich zusammen und legte die Backe auf den Tisch. Die Kellnerin war schnell da, wedelte einmal kurz mit der Hand vor seinen Augen, um sich zu vergewissern, dass er noch bei Bewusstsein war, und fragte dann freundlich, was es denn sein dürfe.
„Pfannkuchen“, seufzte Karuga, ohne den Kopf von der Tischplatte zu heben. „Und einen Haufen Bacon.“
„Aber gerne.“ Die Kellnerin drehte sich ab.
„Einen Haufen Bacon! Einen Berg“, rief Karuga noch hinterher. „Ich zahle einen Fünfziger …“
Er verharrte in seiner meditativen Wartestellung, die Augen halb geschlossen, die Ohren gespitzt, bereit für die Glocke, mit der die Küche eine fertige Bestellung ankündigte. Die Luft roch nach Putzmittel und Vanille.
Auch die anderen Gäste saßen allein an ihren Tischen, und keine Konversation störte das Brummen der Klimaanlage.
Karugas Kopf schnellte aufgeregt nach oben, wie der eines Hundes beim Rascheln der Futtertüte, als er ein helles Klingeln hörte. Leider musste er feststellen, dass es das Glockenspiel an der Eingangstür war, nicht die Küchenglocke. Ein falsches Klingeln.
Die Enttäuschung schlug in Frustration um, als der frisch angekommene Fremde bei seinem Tisch stehen blieb und fragte: „Ist dieser Platz noch frei?“
Der Fremde trug ein weißes Gewand mit goldenen Stickereien. Es umhüllte seinen Kopf wie ein Beduinenaufzug, und über Mund und Nase hing ein goldenes Kreuz am Stoff. Durch einen Schlitz starrten zwei überfreundliche, kastanienbraune Augen Karuga an. Definitiv ein religiöser Spinner.
Karuga wusste, dass er sich keinesfalls in ein Gespräch verwickeln lassen durfte.
„Ich bin strikter Heide“, spulte er seine Standardabwehr ab. „Unbekehrbar. Bessere Männer als du haben es versucht. Versuch es bei dem da – der hat eben gesagt, er ist enttäuscht vom traditionellen Christentum. Viel Glück dir.“
Er legte den Kopf wieder auf den Tisch und dachte an Pfannkuchen.
Der Fremde setzte sich ihm gegenüber auf die Bank aus weißem Leder. Karuga seufzte, richtete den Kopf auf und begann, den Nacken und die Arme zu strecken. Er hatte nicht vor, dem Mann etwas anzutun und hungrig des Restaurants verwiesen zu werden – glaubhaft angedrohte Gewalt reichte bei diesen Typen in der Regel aus.
„Was suchst du, Karuga?“
„Ich bin wirklich nicht in der Laune, ein Gespräch mit dir zu führen. Dass du meinen Namen kennst, beeindruckt mich nicht. Die Parkplatzliste ist öffentlich. Bitte verpiss dich, bevor ich dir aufs Maul hauen muss.“
„Bist du denn noch in der Lage zu kämpfen? Du siehst ein bisschen wacklig auf den Beinen aus. Lange Nacht gehabt?“
Das war zu viel – diese Übergriffigkeit, hinter öliger Freundlichkeit kaum versteckte Arroganz. Karuga stand auf und plante, den Störenfried am Schlafittchen zu packen und zum Ausgang zu schleifen. Dafür würden sie ihn hoffentlich nicht rauswerfen. Er könnte behaupten, der Mann habe seine Mutter beleidigt.
„Du hast einen leeren Container“, stellte der Fremde fest.
Karuga hielt inne und schnaufte. Seine Fäuste waren geballt, und er torkelte leicht im Stand.
„Ein leerer Container soll den ganzen Weg nach Molech auf sich nehmen. Das ist ein Problem.“
Nur sehr langsam arbeitete sich Karugas geschundenes Gehirn zu der Erkenntnis vor, dass der Fremde wohl mit ihm Geschäfte machen wollte.
Im Augenwinkel sah er die Kellnerin, die die beiden Männer angespannt beobachtete. Sie fürchtete sicherlich, dass es gleich eine Schlägerei geben würde – und sie dann das Blut aufwischen müsste.
Der Fremde öffnete seinen Schleier und offenbarte ein braungebranntes Gesicht mit verzwirbeltem Schnurrbart.
„Zwei Bier“, rief Karuga in Richtung der Kellnerin und setzte sich wieder auf seinen Platz. Sie nickte erleichtert.
„Das ist sehr freundlich, aber ich trinke keinen Alkohol.“
„Beide für mich“, lallte Karuga. Er klatschte ein paar Mal mit den Fingern an die eigene Schläfe, um das Hirn aufzuwecken.
„Ich habe Ihnen übrigens nicht nachspioniert. Wenn man nach Transportaufträgen fragt, entsteht ein gewisser Flurfunk. Dass wir uns hier noch treffen, ist ein dankenswerter Zufall. Und das ist die Sprache Gottes, oder nicht?“
„Sicher, sicher.“ Karuga griff nach seinem Bier – und musste feststellen, dass es die Kellnerin ja noch gar nicht gebracht hatte. „Sie gehören zu?“
„Ich bin gewissermaßen ein Bindeglied zwischen der Kirche des trüben Chroms auf Klosterbrocken und den diversen ortsansässigen und durchreisenden Privatunternehmen. Ein Vermittler, ein Mediator. Unter diesen Titeln kennt man mich im ganzen Sektor.“ Er sprach langsam, in wohlüberlegten Worten, und das leichte Lächeln verließ nie seine Lippen.
„Ah ja.“
„Sie transportieren Giftmüll?“, fragte der Mediator.
„Ja. Transporte von hier bringen aber keine Prämie. Ich bin nicht an Giftmüll interessiert. Ich brauche etwas, das ich verkaufen kann.“
„Ich habe eine Art Sonderauftrag für Sie.“
Die Kellnerin brachte zwei Bierflaschen. Sie stellte die eine vor Karuga, die andere vor den Fremden ab. Karuga nahm die zweite Flasche an sich und biss ihren Kronkorken ab.
„An Sonderaufträgen bin ich auch nicht interessiert.“
„Es ist weder riskant noch kompliziert. Ich habe ein Stück toxischen Abfalls hier – ein großes Stück. Ich kann es nicht selbst von Klosterbrocken heruntertransportieren und möchte es loswerden. Sie müssen also nur zur Deponie auf Molech, wie Sie es sowieso geplant hatten. Die Prämie zahle ich selbst.“
„Das klingt zu heiß. Sie hätten einen Sondertransport bestellen können, aber Sie brauchen etwas weniger Offizielles.“
„Ach, nein. Maximal lauwarm. Es geht um ein Überbleibsel eines verschrotteten Biogasreaktors. Ein illegaler Reaktor, zugegebenermaßen, aber das hat nur mit lokaler Regulatorik zu tun. Sobald Sie Klosterbrocken verlassen haben, ist nichts mehr Illegales an der Fracht. Allerdings haben Sie dahingehend recht, dass ich eine gewisse Diskretion erwarte.“
Karuga nahm einen tiefen Schluck Bier und versuchte, nachzudenken. Fünfzehntausend war die Giftmüllprämie für einen Container, der Zuschlag Zehn, aber das wusste Robert wahrscheinlich nicht, also konnte Karuga mehr verlangen. Dann fantasierte sein Gehirn eigenmächtig für ein paar Momente über Ella, ihren Lidstrich und ihre nuttigen Netzhautstrümpfe, und er hatte die Zahlen wieder vergessen, bevor er es zurück auf Kurs bringen konnte.
Der Fremde winkte irgendwann der Kellnerin und bestellte einen Kamillentee mit viel Honig.
Scheiß auf Kopfrechnen, das hier ist besser als eine Leerfahrt. „Weißt du, für wen ich arbeite?“, fragte Karuga schließlich.
Der Fremde schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich vermute, es wird wohl eines der vier Syndikate sein.“
Karuga streckte sein Bein neben dem Tisch aus, damit der Fremde es sehen konnte, und zog das Hosenbein hoch. Auf dem Schienbein konnte man zwei der historischen Ashintur-Logos erkennen – ein verblasstes mit einem kleinen Häschen, das auf dem A saß, und ein neueres, ein schlichtes Design mit einem Stern.
„Auch wenn wir das hier per Handschlag machen, gehst du einen Vertrag mit der Firma ein. Einen mündlichen Vertrag. Und wenn ich auf dem Frachtscan irgendwas Heißes sehe – Waffen, Leichen, irgendwas, das du mir nicht gesagt hast –, dann ist das ein Vertragsbruch deinerseits. Verstehst du?“
„Ich bin ein alter Hase, Karuga. Ich werde nicht versuchen, den Zorn von Ashintur auf mich zu lenken.“
Karuga fand die Aussage etwas irritierend, denn der Mann konnte nicht älter als Ende zwanzig sein. Außerdem war sein Lächeln etwas zu breit. Vielleicht wusste er, dass Karugas Schiff gar keinen Frachtscanner besaß – aber woher sollte dieser Hinterwäldler das wissen?
„Und du zahlst die Prämie für den ganzen Container, egal wie voll er wird.“
„Das wäre auch mein Vorschlag gewesen. Ich sehe, wir werden uns heute einig. Mashallah.“
„Nicht so schnell. Ich brauche Frachtpapiere.“
„Längst vorbereitet.“
Der Mann griff in den Ärmel seines Gewandes und zog drei Blatt Papier heraus, die erstaunlicherweise gar nicht verknickt aussahen. Das oberste zeigte eine Schemazeichnung eines klobigen, rechteckigen Gegenstandes.
„Aber!“ – der Fremde beugte sich leicht vor – „auch ein Handschlag bringt bestimmte Formalien mit sich. Ich bin Robert Fuchs. So, jetzt, wo du meinen Namen kennst, können wir fortfahren. Und sieh mal – da ist dein ersehntes Essen. Das würde ich als gutes Omen bewerten.“
Er strahlte und streckte die Hand aus.
Mit einem Stapel Pfannkuchen mit Sahne und einer Kirsche obendrauf auf dem einen und einem tatsächlichen Berg aus Bacon auf dem anderen Teller näherte sich die Kellnerin.
Karuga befand, dass das Angebot gut genug war, und er den Fremden jetzt so schnell wie möglich loswerden musste, um sein Essen genießen zu können, solange es noch heiß war.
Er schüttelte Roberts Hand, ließ sich bezahlen, löste den Datentresor von seinem Schlüsselbund und klopfte zweimal mit ihm auf die Dokumente. Die Maschine verstand das Kommando und leuchtete für eine Sekunde unangenehm hell auf. Karuga hielt sich den Arm vor die Augen. Die Lichtstrahlen durchdrangen das Papier, und das Gerät beendete den Vorgang mit einem fröhlichen Blubbergeräusch, das anzeigte, dass die Dokumente erfolgreich eingescannt worden waren.
„Beladeerlaubnis erteilen“, krächzte der Datentresor. Entsprechend der Richtlinien der Union durfte die Maschine nur mit kurzen, abgehackten Sätzen und eindeutigen Aussagen kommunizieren.
„Beladeerlaubnis erteilt“, sagte Karuga.
„Beladeeelaubnis erteilen“, spielte der Datentresor im exakt gleichen Tonfall wieder ab.
Karuga schnappte den Kasten und schlug ihn unsanft dreimal auf die Dokumente. Die Teller und das Zuckerglas hüpften klirrend auf dem Tisch hin und her.
„Beladeerlaubnis erteilt“, krächzte der Kasten resigniert.
„Ich mag dich, Roland. War eine Freude, mit dir Geschäfte zu machen. Also nimm es mir nicht übel, aber ich esse gern allein.“ Karuga fürchtete, dass nach dem Geschäftlichen doch noch der Bekehrungsversuch zu seiner beschissenen Sekte folgen würde.
Doch Robert legte einen Geldschein unter seine Teetasse und erhob sich. „Arodel schütze dich.“ Er beugte sich zu Karuga und malte ihm mit dem Finger eine Spirale auf die Stirn. Karuga schlug seine Hand weg. Nicht einmal das konnte dem Spinner das Lächeln nehmen.
Robert Fuchs verbeugte sich zum Abschied und verschwand in der gleißenden Morgensonne.
Karugas Rausch wurde etwas milder – erst von der Anspannung des Deals, dann vom guten Bacon: knusprig und fast schwarz, perfekt mit Sirup und Pfannkuchen. Er spülte das Essen mit dem ersten Bier herunter und nahm das zweite als Schlummertrunk mit.
Auf dem Parkplatz des Raumhafens wuselten schon die Lagerarbeiter herum, als Karuga bei seinem Schiff ankam, und luden den Reaktor – oder was auch immer das Ding war – in den zweiten Frachtcontainer. Wenn es so schnell ging, musste der Mann verzweifelt gewesen sein.
Karuga ärgerte sich, ihn nicht noch mehr ausgenommen zu haben, obwohl der Deal schon so sehr günstig war. Offensichtlich war der Reaktor verdammt schwer, denn die Lader benutzten zwei ihrer spinnenartigen Schlepproboter gleichzeitig.
Karuga sah das Ding, das in sein Schiff verladen wurde, im gleißenden Licht nur undeutlich – es hatte vielleicht die Größe eines Panzers und bestand aus ölschwarzen Stahlplatten mit dicken Bolzen, gerahmt von einem Material, das wie nasses, weißes Plastik aussah.
Er schenkte dem Personal ein aufmunterndes „Weitermachen!“, während er mit seinem letzten Bier in der Hand an ihnen vorbei taumelte. Er gab vor, das gemurmelte „A********!“ eines Laders nicht gehört zu haben.
Mit letzter Kraft schleppte sich Karuga in sein Cockpit, zu seinem geliebten Sofa, und zog enthusiastisch seine Klamotten aus. Als er die Hose in die Ecke warf, hörte er ein Klimpergeräusch, schaute in die Hosentaschen und fand einen Talisman mit goldener Kette.
Es war eine Art geflügelter Hammer in einem runden Rahmen mit lateinischer Inschrift – im weitesten Sinne also eine religiöse Figur. Karuga erinnerte sich, das Ding zuletzt in Ellas Ausschnitt gesehen zu haben. Sie musste es ihm in die Tasche gesteckt haben, weil er von seiner Sammlung erzählt hatte.
Und sie war dabei so gerissen vorgegangen, dass er es nicht einmal bemerkt hatte.
Karuga gab dem Anhänger einen Kuss und einen Ehrenplatz auf seinem Figurenregal, bevor er sich auf das Sofa legte. Trotz des Schnapses und des Schlafmangels war er für eine Weile zu aufgekratzt, um Schlaf zu finden.
Kapitel 3: Galappa
Im starken Kontrast zu seinen Landgängen war die Zeit, die Karuga allein im Schiff verbrachte, geregelt, monoton und beinahe meditativ.
Meistens saß oder lag er im Cockpit und überwachte den Autopiloten, stellte kleine Kurskorrekturen ein, drosselte den Reaktor – dergleichen. Für mindestens zehn Stunden am Tag verblieb er auf seinem Posten.
Radiostationen gab es hier, in der Leere des Galappanebels, fast keine. Doch wenn einmal eine auf dem Radar auftauchte, machte Karuga einen kleinen Schlenker und hörte angespannt die lokalen Nachrichten ab, ob es Hinweise auf Piratenaktivitäten oder Polizeikontrollen gab. Wenn die geplante Tagesdistanz geschafft war, ankerte er das Schiff und vertrieb sich die Zeit.
Da er sowieso immer im Cockpit schlief, hatte er die Kajüte zu einem Fitnessstudio umgebaut. Er trainierte abends am Boxsack oder an den Hanteln, aß simple Mahlzeiten aus Bohnen und pulverisiertem Huhn, spielte das MMA-Spiel auf der Konsole in der Küche und futterte dabei Fruchtgummis und Trockenfleisch. Er schaute Pornos und MMA-Kämpfe auf seinem Arbeitslaptop – immer dieselben aus seinem Vorrat, denn die Dateien waren schwierig aufzutreiben –, tanzte im Fitnessstudio zu elektronischer Musik, und vor allem schlief er viel.
Wenn er morgens aufwachte, blieb er meistens noch eine Stunde oder zwei liegen und versuchte, zu seinem Traum zurückzufinden.
Er träumte nie von Ella, aber dachte an den ersten Tagen der Reise oft an sie. Eine Fantasie bildete sich aus, in der sie von einer Kleinkriminellen zu einer Großkriminellen aufstieg – eine wie er selbst –, und sie sich in irgendeinem abgelegenen Raumhafen wiedersahen, ihre bewaffneten Schmugglerschiffe Seite an Seite geparkt, partners in crime.
Nach fünf Tagen fiel es ihm schon schwerer, sich an die Details ihrer Gesichtszüge zu erinnern, und mit melancholischer Fassung gestand er sich ein, dass es nie passieren würde. Die Fantasien wandelten sich zu einer kurzen Begegnung mit wildem Sex und einem tränenreichen Abschied.
Der abgelegenste Raum im Schiff war die Waschküche, die man notgedrungen in einer Art Abstellkammer hinter dem Reaktorraum untergebracht hatte, direkt neben dem Frachtraum. Dort wurde Karugas Frieden gestört, elf Tage bevor er den Hafen in Molech erreichen sollte.
Aus dem Trockner kam ein Klopfgeräusch, obwohl das Gerät ausgeschaltet war. Karuga leuchtete mit seiner Taschenlampe hinein, doch die Trommel war leer. Als er den Kopf hineinsteckte, erklang das Klopfen lauter, aber immer noch gedämpft, ungefähr einmal in der Sekunde.
Karuga stand für ein paar Sekunden ratlos da, bis zum Nacken in der Wäschetrommel, bis ihm dämmerte, dass das Klopfen aus dem Frachtraum kommen müsse.
Zeichenlimit erreicht..
Karuga - die ersten 3 Kapitel
-
- Neo
- Beiträge: 2
- Registriert: Heute 15:02
- Bundesland: Hessen
- Land: Deutschland
-
- Neo
- Beiträge: 2
- Registriert: Heute 15:02
- Bundesland: Hessen
- Land: Deutschland
Re: Karuga - die ersten 3 Kapitel
Fortsetzung:
„Robert Fuchs, du verdammtes A********“, murmelte er leise.
Er hörte genauer hin. Das Klopfen war regelmäßig, aber nicht exakt im Takt. Es konnte keine Maschine sein.
„Hallo?“, brüllte er in den Trockner hinein.
„Hallo!“, kam sofort eine verzweifelte Frauenstimme zurück. „Hallo? Hallo! Ich bin hier! Ich bin …“
Karuga raufte sich die Haare und verließ den Raum, damit er die Stimme nicht mehr hören musste.
Es gab jetzt zwei Möglichkeiten:
Erstens: die sichere Variante. Karuga konnte den Frachtcontainer in die Weite des Raums abstoßen. Wer auch immer da drin war, würde im Vakuum einen schnellen Tod sterben und ihm keine juristischen Schwierigkeiten machen. Er würde aber den ganzen Container loswerden und einen neuen kaufen müssen. Außerdem war ein fehlender Container an sich schon verdächtig bei einer Kontrolle, und in dem zweiten befanden sich schließlich zwei Kilo Kokain.
Zweitens: die menschliche Variante. Karuga konnte die Personen, die da drinnen anscheinend noch am Leben waren und die Fuchs so dringend loswerden wollte, in sein Schiff lassen. Was aber, wenn es gesuchte Terroristen waren – oder was auch immer? Das Risiko war enorm. Außerdem könnten sie vom Giftmüll kontaminiert sein.
Er lief im Fitnessraum auf und ab. Für die blinden Passagiere tickte die Uhr – sie würden da drin nicht ewig aushalten.
Karuga kam endlich ein Argument für die zweite Variante in den Sinn: Wenn die Frau da drinnen noch am Leben war, konnte sie ihm helfen, Fuchs zu finden. Er könnte das Ganze als Rachefeldzug bei der Firma einreichen und Unkosten plus Bonus einkassieren. Vorher noch im Firmenbüro in Molech ein paar Waffen mitnehmen – und dem Hurensohn Fuchs das Gesicht wegblasen.
Die Entscheidung war gefallen.
Hastig zog er seinen orangenen Gummianzug an, steckte seine kleine Dienstpistole in die Tasche, schaltete die Lampen an der Gasmaske ein und öffnete die enge Stahltür zum Frachtraum. Das Klopfen und Schreien war verstummt.
Langsam entriegelte Karuga den Container, nahm die Pistole in die rechte Hand und zog mit der linken das Tor auf. Die austretende Luft hatte eine ekelerregende Wärme an sich, und die Mischung aus süßlicher und salziger Verwesung drang durch die Maske.
Die Innenwände des Containers waren porös, das Metall angefressen von der jahrelangen Giftmüllbelastung. In seiner Mitte stand die Stuktur, dieser angebliche Reaktor, den Karuga auf Klosterbrocken aufgeladen hatte. Zum ersten Mal nüchtern betrachtet, kam ihm das Objekt sehr sargartig vor. Es war kantig, unten etwas dünner als oben, und schmutzig. Die weißen Plastikteile waren im Gegensatz zum schwarzen Stahl blitzblank.
Der Bauch des Gebildes stand offen; eine der schmierigen Stahlplatten hatte sich gesenkt und offenbarte einen weißen Innenraum. Karuga ging etwas näher heran. Auf dem Boden des Raums schienen Blumen zu wachsen – sie sprossen direkt aus dem glänzend weißen Kunststoff heraus und verzierten ihn mit ihren rosanen, violetten und weißen Blüten. Von der hohen Decke hingen bluttriefende Gedärme kreuz und quer herunter und besudelten alles andere. Der Gestank war fürchterlich und verursachte ein flaues Gefühl in Karugas sonst eisernem Magen. Ein Geräusch erklang aus dem Herzen des Konstrukts, wie das Flüstern eines kleinen Bachs im Wald.
Der ganze Anblick war furchtbar bizarr und ließ Karuga für einen ängstlichen Moment an eine Art Biowaffe denken. Doch er ging trotzdem weiter, folgte blutigen Fußabdrücken um den Sarg herum und kam bei einer Frau an, die bewusstlos auf dem Boden lag.
Sie trug etwas, das wie eine Mischung aus Sportbekleidung und königlichen Gewändern aussah – ein hautenger, dehnbarer Stoff mit weiteren, locker fallenden Schichten über Brust und Hüfte, in Weiß, Blau und Gold, alles voller Stickereien, seltsamer Wappen und nordisch anmutender Runenschrift.
Karuga vergewisserte sich, dass niemand anders anwesend war – er warf sogar noch einen Blick in den ekelerregenden Innenraum – und rüttelte sie dann an der Schulter.
Ihr Haar fiel zur Seite und gab den Blick auf ein kantiges Gesicht mit schmalen Lippen frei, doch sie blieb bewusstlos. Das Schreien und Klopfen musste sie das letzte bisschen Kraft gekostet haben.
Die Frau wog vielleicht halb so viel wie Karuga, also trug er sie auf der Schulter aus dem Container heraus.
Im Gang Richtung Cockpit fiel ihm auf, dass er nicht vernünftig vorgeplant hatte. Die Frau und ihre Klamotten waren vielleicht voller Giftmüll, und er hatte keine Plastikplane oder so etwas auf das Sofa gelegt, das seine einzige Schlafgelegenheit darstellte.
Aber bewusstlos, wie sie war, konnte er sie auch schlecht in die Badewanne legen. Scheiß drauf, beschloss er, dann muss ich das Laken halt tauschen.
Er legte die Frau auf das Sofa. Wangentätscheln, Ruckeln, Schreien, sogar leichte Ohrfeigen konnten sie aus ihrer Bewusstlosigkeit nicht befreien.
Karuga erinnerte sich dunkel an eine Ashintur-Pflichtschulung über ein Produkt namens OMNI-GEGENGIFT der Firma POLYTOX. Die Begriffe hatten sie ganz oft wiederholt, doch wo im Schiff war das verdammte Ding?
Karuga sah im Badezimmer nach – einfach, weil es der logische Ort schien – und fand tatsächlich eine Spritze mit der Aufschrift „POLYTOX OMNI – Gegen alle üblichen Vergiftungen“, aber keine Packungsbeilage oder sonstige Hinweise.
Auf der Spritze fand er auch keine Anleitung, also jagte er sie der fremden Frau kurzerhand in den Oberschenkel und drückte den Pfropfen herunter. Es folgten einige Minuten angespannten Wartens.
Beim nächsten Ruckeln an der Schulter gingen endlich ihre Augen auf.
„Das Wasser ist zu kalt“, sagte sie ernst. Ihr durchdringender Blick wanderte durch den Raum und landete schließlich auf Karuga. „Die Pferde werden sich erkälten.“
„Ich glaube, wir sind noch nicht ganz bei Bewusstsein“, sagte er. „Geht es Ihnen gut?“
„Zu kalt“, hauchte sie, und ihre Augen fielen wieder zu.
Karuga tätschelte nicht besonders sanft ihre Wange. „Hallo. Hierbleiben.“
Widerwillig hoben sich ihre Lider.
„Sie haben eine Vergiftung. Wahrscheinlich toxische Dämpfe eingeatmet. Wir müssen Sie aus diesen Klamotten rauskriegen. Kontamination. Gift. Verstehen Sie mich?“
„Es sind maximal drei Kilometer bis zur Furt. Maximal. Wir hätten einfach dorthin gehen können.“
Jetzt klang sie etwas genervt. Karugas Geduld ging ebenfalls zur Neige – er hatte das Gefühl, dass jede Sekunde mehr Giftdämpfe in sein geliebtes Sofa eindrangen, während die Frau darauf lag und Nonsens redete.
„Ich bin Karuga. Was ist dein Name?“, versuchte er es.
„Maya Machida.“
„Gut, Maya Machida. Du musst aus diesen Klamotten raus. Und duschen. Okay? Ich trage dich jetzt in die Badewanne.“
„Ein warmes Bad wäre herrlich, Mathilda.“
„Ich bin nicht Mathilda“, murmelte Karuga leise, aber alles in allem war er froh darüber, dass sie den Vorschlag angenommen hatte.
Vorsichtig nahm er sie auf und trug sie zum Badezimmer, wo er sie in der Wanne ablegte.
„Sekunde“, sagte er, verließ hastig den Raum und kam mit einem frischen Handtuch, einer Jogginghose, einer Boxershorts, einem T-Shirt, einem Unterhemd und einer Mülltüte zurück.
Ihre Augen waren schon wieder halb geschlossen.
„Maya?“
„Rüdiger ist zu alt, die Gelenke machen nicht mehr mit“, murmelte sie.
„Nein, nein. Maya, Augen zu mir.“ Er schnippte mit den Fingern. Maya sah ihn ein wenig erschrocken an.
„Maya, du bist gerade in Gefahr, okay? Du musst alles, was du am Körper trägst, ausziehen und in diese Tüte hier stopfen. Dann duschst du dich gründlich ab, und dann ziehst du diese Klamotten hier an. Fass sie auf gar keinen Fall nach dem Duschen wieder an. Sie sind verseucht. Hast du das verstanden?“
Sie nickte, doch Karuga war nicht ganz überzeugt.
„Ich lasse dich jetzt alleine. Du verstehst, was du zu tun hast?“
„Waschen, Klamotten nicht anfassen. Geh schon.“ Endlich klang sie wach.
Karuga schloss die Tür und ging zur Waschküche. Dort warf er seine Kleidung in den Abfallschacht, wusch sich am Waschbecken und zog sich frische Sachen aus dem Schmutzhaufen. Erleichtert hörte er, dass im Bad das Wasser lief.
Er klopfte an die Tür. „Geht es dir gut?“
„Ja“, rief sie zurück. „Ich brauche noch eine Weile.“
„Lass dir Zeit. Und fass die alten Klamotten nicht an.“
„Ich weiß.“
Karuga holte ein paar Einweghandschuhe aus der Waschküche, ging zum Cockpit, zog den Bezug des Sofas ab und warf ihn zusammen mit den Handschuhen in den Müll. Dann setzte er sich und zündete eine Zigarette an.
Es gab einen Ort für Chaos, Kampf und Improvisation für ihn, und das war außerhalb des Schiffs. Das Innere des Schiffs war ein Ort für Routine und Einsamkeit. Diese Übertretung seiner persönlichen Trennlinie stieß Karuga bitter auf, und er nahm sich vor, die Situation so schnell wie möglich aufzulösen und zur Normalität zurückzukehren.
Maya stand in der Tür, Karugas Klamotten tragend. Ihre Füße verschwanden in den zu langen Enden der Hosenbeine, das Shirt ging ihr bis über die Hüfte.
„Es wäre echt nett, wenn du hier drinnen nicht rauchen würdest“, sagte sie im Ton einer tadelnden Ehefrau.
Karuga drehte sich langsam zu ihr um. Gefasst, aber mit einem drohenden Unterton antwortete er: „Ich glaub, du hast sie nicht alle. Hab ich dir gerade das Leben gerettet oder nicht?“
Sie sah ihn fragend an.
„Das hier ist mein Schiff. Wer zur Hölle bist du überhaupt, was machst du in meinem Container?“
„Ich war in einem Container? Wie ein Müllcontainer?“
„In diesem Falle ja.“
„Oh Gott. Ist das Memorion intakt?“
„Keine Ahnung, was das sein soll.“
„Die Kapsel. Die Kapsel, in der ich gelegen habe.“
„Der Sarg mit den Gedärmen drin ist noch da. Jetzt erklär mir bitte, was zur Hölle das ist.“
Sie atmete erleichtert aus. „Gut. Es wäre eine Tragödie, wenn wir eines verschwendet hätten.“
Karuga drückte wütend die Zigarette aus. „Ich muss jetzt wissen, wie du da reingekommen bist und was dieses Teil ist.“
„Was dieses Gerät wirklich ist, würdest du nicht verstehen, wenn ich es dir zwei Jahre lang erklären würde“, sagte sie arrogant. „Bring mich zu einem Planeten. Einem mit Stein und Wasser.“
„Ich glaube, du missverstehst grundsätzlich, in was für einer Situation du dich befindest.“
Er stand auf und ging zu Maya herüber. „Ich habe dich aus dem Müll gefischt, und jetzt bist du ein Stück illegaler Fracht auf einem Ashintur-Frachter. Das ist keine Situation, in der man Forderungen stellt. Meine beste Option ist immer noch, dich und deine Gedärmekiste ins Vakuum zu werfen. Ist dir das bewusst?“
Jetzt sah Maya zum ersten Mal verzweifelt aus. „Was ist Ashintur?“
„Wie kannst du noch nie von Ashintur gehört haben? Es ist ein Unternehmen. Ein großes. Die Art von Unternehmen, das ein eigenes Militär hat. Und du bist bis auf weiteres Eigentum dieses Unternehmens.“
„Du bist kein Diener von Arodel? Kein Haifischritter, nicht mal ein Apostel?“
Karuga schüttelte den Kopf. „Ich glaube, du bist noch nicht ganz bei dir.“
Maya atmete tief ein und nickte, wie zu sich selbst. „Gut. Damit können wir umgehen. Damit müssen wir umgehen.“
„Wer ist Robert Fuchs?“
„Ich kenne keinen Robert Fuchs.“
Karuga ging schlagartig die Geduld aus. Er ging einen Schritt vorwärts und ballte die rechte Hand vor ihrem Gesicht zur Faust. Er hatte nicht vor, sie zu schlagen – die Drohung würde hoffentlich ausreichen.
„Der Mediator. Robert Fuchs, der Mittelsmann auf Klosterbrocken, der mir die Kiste angedreht hat, in der du lagst. Letzte Chance – wer ist er?“
Ihre Augen wurden weit. Sie starrte an Karuga vorbei.
Er wurde lauter. „Wer ist Robert Fuchs, was ist die Kiste für eine Maschine, und warum warst du dort drin?“ Er legte zwei Finger der rechten Hand an ihr Schlüsselbein und drückte sie an die Wand – nicht fest, aber fest genug.
Sie starrte weiter an Karuga vorbei und atmete schnappartig. „Ich weiß es nicht. Das war alles nicht so geplant. Als ich das letzte Mal wach war, war ich auf Alamut. Das muss Jahre her sein.“ Ihre Stimme wurde schwächer, beinahe schluchzend. „Ich weiß nicht, wer Robert Fuchs ist. Als ich das Memorion betreten habe und eingeschlafen bin, war ich eine Prinzessin von Tegelhalm. Jetzt bin ich auf einem stinkenden Frachtschiff …“
„Es stinkt hier, weil du ja unbedingt in einem Müllcontainer mitreisen wolltest. Hätte ich die Tür geschlossen lassen sollen?”
Sie hob in einer verzweifelten Geste die Hände in die Luft und fing an zu weinen.
Karuga ließ von ihr ab. Was bin ich nur für ein A********, dachte er. Das kleine Ding wäre beinahe gestorben, ist immer noch vergiftet und vollkommen verwirrt. Ich hätte sie nicht so einschüchtern sollen – sie ist gerade gar nicht in der Lage, mir zu sagen, was ich wissen muss.
„Hey, hey“, sagte er in einem Ton, der hoffentlich beschwichtigend genug klang. „Ich werde dir nichts tun, okay? Es tut mir leid. Du hast ein bisschen was durchgemacht, du musst jetzt erstmal wieder auf die Beine kommen. Und dann können wir reden. Okay?“
Sie nickte schluchzend. Unter weiter fließenden Tränen sagte sie schließlich: „Ich hab Hunger.“
Die nächste Stunde verbrachte Karuga in der Küche. Die Wünsche der angeblichen Prinzessin waren tatsächlich recht prinzessinnenhaft: Sie fragte ständig nach irgendwelchen Kräutern und Körnern, um das Essen etwas interessanter zu machen, doch Karuga hatte nichts davon auf Lager – und von den meisten Dingen überhaupt noch nie gehört.
Sie aß wie ein Bär. Nach den ersten zwei riesigen Gängen aus Bohnen, Reis und Fleisch verlangte sie einen Nachtisch, was Karuga verneinte. Doch sie bettelte förmlich und brauchte keine dreißig Sekunden, um sein Herz zu erweichen. Kurz darauf stand er wieder in der Küche und rührte Vanillearoma in einen Quark ein. Er fand sogar noch eine Packung Kürbiskerne – und da sie ständig nach irgendwelchen Körnern und Samen gefragt hatte, streute er eine Handvoll darüber.
Stolz servierte er ihr seine Kreation, doch sie murmelte nur enttäuscht: „Oh. Kürbiskerne“, und aß dann vorsichtig um sie herum, als wären sie giftig.
Karuga überprüfte im Cockpit die Reaktortemperatur, als sie hereinkam und sich schnurstracks auf das Sofa legte. Offensichtlich war sie endlich satt.
„Stop“, sagte Karuga. „Das ist mein Platz.“
„Und wo schlafe ich?“
Karuga fiel auf, dass er sich darüber noch gar keine Gedanken gemacht hatte. Kurzerhand nahm er eine Decke aus dem Trockner, eins seiner Kissen vom Sofa, und legte sie auf die Gymnastikmatte im Fitnessraum. „Bitteschön, eure Hoheit.“
Maya schien plötzlich wieder emotional. Sie gab Karuga eine lange Umarmung. „Danke. Danke, Kruga.“
„Karuga.“
„Entschuldigung. Kannst du mein großer Bruder sein auf dieser Reise?“
Was für eine seltsame Frage. – „Natürlich“, sagte Karuga, in der Hoffnung, dass sie sich an diese ganze wirre Konversation nicht erinnern würde. Er wollte sie beruhigen, damit sie sich endlich schlafen legte und hoffentlich bei klarem Kopf wieder aufwachen würde.
Und es schien funktioniert zu haben, denn in der Sekunde, in der ihr Kopf das Kissen berührte, war sie wie ausgeknockt.
Karuga navigierte eine Weile, kochte sich sein Essen, ließ die Route neu berechnen – das Übliche –, doch er erledigte alles mit einer nervösen Eile. Nach zwölf Stunden schlief sie immer noch, und Karuga nahm sich vor, sie weder zu wecken noch selbst einzuschlafen, bevor sie wieder wach wäre. Doch bei Stunde zwanzig machte er schlapp und nickte auf dem Sofa ein.
Als er die Augen öffnete, stand Maya vor ihm – in angespannter Haltung. Sie hatte die Beine der zu langen Hose hochgekrempelt und hielt ein Fleischmesser aus der Küche in der linken Hand.
Karuga richtete sich auf. „Nein, nein. Das lassen wir bleiben.“
„Du stehst Dingen im Weg, die größer sind als du“, sagte sie kalt.
„Und was willst du dagegen machen?“
„Nimm Kurs auf einen Planeten mit Stein und Wasser. Und da setzt du mich und das Memorion ab.“
„Wir sind auf der Route nach Molech. Da gibt es kein Wasser. Wir hatten dieses Gespräch schon, Maya. Du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen.“
Er plusterte sich auf, versuchte ihr klarzumachen, dass er schlicht und einfach größer und stärker war – doch das Messer machte ihm Sorgen. Er ging einen Schritt vorwärts, sie einen zurück.
„Lass es fallen.“
Zu seiner großen Überraschung tat sie genau das. Die Klinge fiel klimpernd zu Boden. Den Blick auf das Messer zu wenden, stellte sich als Fehler heraus, denn Maya nutzte diesen Moment, um die Hüfte zu drehen und einen meisterhaften Kopftritt vorzubereiten. Karuga sah den nackten, schmutzigen Fuß noch in Richtung seiner Schläfe fliegen, dann gingen die Lichter aus.
Aber nur für einen Moment. Karuga kam am Boden wieder zu sich, mit dem Rücken am Sofa. Instinktiv schützte er das Gesicht mit den Händen, gerade rechtzeitig, um einen harten Schlag abzuwehren. Wieder und wieder boxte Maya auf ihn ein. Er vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte, sich aufzurichten. Sie zielte auf seinen ungeschützten Hinterkopf und landete ein paar mittelschwere Treffer.
Sobald er Boden unter den Füßen hatte, machte Karuga einen Satz vorwärts und packte seine Gegnerin an der Hüfte. Ohne große Anstrengung hob er sie in die Luft und warf sie in den Gang, ging auf ihr in die Hocke und setzte einen Schlag auf ihr Kinn an. Er war in diesem Moment schon vom Sieg überzeugt, doch zu seinem Erstaunen parierte sie, stieß sich am Sofa ab, um unter ihm hindurchzurutschen und ihre Beine zu befreien, und gab ihm einen festen Tritt, der seinen Hoden sehr knapp verfehlte und am inneren Oberschenkel landete.
Karuga gelobte, diese Irre kein zweites Mal zu unterschätzen, klemmte ihre Beine in seine ein und ließ seinen Ellenbogen wieder und wieder auf ihren Kopf donnern, bis ihre Deckung versagte und er sie mit einem Kopftreffer schlafen legte. Dabei verursachte er eine Platzwunde und versaute das ungeschützte Sofa, das immer noch keinen neuen Bezug darauf hatte.
Sie kam einen kurzen Moment später wieder zu sich. Karuga saß bereits mit angezündeter Zigarette auf seinem Stuhl, blickte auf sie herunter und sprach, ohne die Stimme zu heben: „Maya, versuch so einen Scheiß nochmal, und ich muss dich umbringen.“
Ab diesem Punkt wurde die Konversation erstaunlicherweise entspannter. Vielleicht hatte ihr Gehirn den Knockout gebraucht, um sich wieder zu kalibrieren, jedenfalls gab sich die Prinzessin plötzlich recht umgänglich, entschuldigte sich mehrfach für den Angriff und sagte, sie habe nicht gewusst, was sie tat.
Ein Teil von Karuga wollte sie natürlich zurück in den Container stopfen und damit das Risiko für sich minimieren, aber er konnte nicht anders, als sie nach dem Angriff viel sympathischer zu finden als vorher. Sie hatte ihn wach werden und aufstehen lassen, bevor sie ihm ins Gesicht getreten hatte - ein Kampf, kein Hinterhalt. Und was für ein eleganter Tritt, vorbereitet von der Finte mit dem Messer – wunderschön. Sein Instinkt beharrte darauf, dass die Frau die Wahrheit sagte und ihm keine Probleme mehr machen würde. Der Anfall war sicherlich nur ein Resultat der abklingenden Verwirrung gewesen. Diese Entscheidung war zwar dumm, das sah Karuga durchaus, aber nichtsdestotrotz bereits getroffen, bevor er sie in Frage stellen konnte. Er rationalisierte das Ganze damit, dass man laut Ashintur-Regeln blinde Passagiere lebendig an der nächsten medizinischen Einrichtung absetzen sollte (manchmal schrieben sie auch LEBENDIG in Großbuchstaben, es hatte in der Vergangenheit Missverständnisse gegeben). Also schüttelte er ihre Hand und bedankte sich aufrichtig für den guten Kampf.
Leider blieb Maya bei der Geschichte, sie sei auf irgendeinem Planeten in die Kapsel gepackt worden, die anscheinend Memorion hieß und eine Art Transportbox für sie darstellte, und kenne keinen Robert Fuchs oder Mediator. Als er sie auf die Prinzessinnenbehauptung ansprach, schwieg sie betreten.
Das machte ihm Hoffnung, sie würde vielleicht langsam zu Sinnen kommen, die Wahnvorstellungen loswerden und sich in ein paar Tagen auch wieder an Robert Fuchs erinnern können.
Sie dankte ihm endlich für die Rettung und bot ihm an, auf dem Schiff auszuhelfen, so gut sie könne. In denselben Satz baute sie noch ein, dass sie es zwar sehr wertschätze, dass Karuga ihr Essen gemacht hatte, aber sie einige Entscheidungen in der Küche anders getroffen hätte. Und so fanden sie ihre Aufgabenteilung.
Sie redeten nicht viel, sondern existierten sofort einfach nebeneinander, als wären sie schon seit Ewigkeiten Mitbewohner. Maya kochte erstaunliche Gerichte aus den Pulvern und Konserven in Karugas Schrank und verbrachte den Rest ihrer Zeit mit Meditation und Dehnübungen in ihrem neuen Zimmer.
Karuga machte seine Arbeit so wie immer. Wenn er trainieren wollte, ging Maya in die Küche. Es war kein schlechter Deal für ihn, und er beschloss, das arme Ding sich erholen zu lassen und sie bei Molech noch einmal zu verhören. Vielleicht wäre ihr Erinnerungsvermögen bis dahin wieder intakt.
Sie brauchte nur zwei Tage, um Karuga den Floh ins Ohr zu setzen, dass es im Fitnessraum zu kalt wäre, sodass er ihr von sich aus das Sofa als Schlafplatz anbot und auf die weniger gemütliche Sportmatte umzog. Karuga fühlte sich ein bisschen manipuliert, aber ihr Essen war zu gut und ihr Gesicht zu kränklich, als dass er wirklich sauer werden konnte.
„Robert Fuchs, du verdammtes A********“, murmelte er leise.
Er hörte genauer hin. Das Klopfen war regelmäßig, aber nicht exakt im Takt. Es konnte keine Maschine sein.
„Hallo?“, brüllte er in den Trockner hinein.
„Hallo!“, kam sofort eine verzweifelte Frauenstimme zurück. „Hallo? Hallo! Ich bin hier! Ich bin …“
Karuga raufte sich die Haare und verließ den Raum, damit er die Stimme nicht mehr hören musste.
Es gab jetzt zwei Möglichkeiten:
Erstens: die sichere Variante. Karuga konnte den Frachtcontainer in die Weite des Raums abstoßen. Wer auch immer da drin war, würde im Vakuum einen schnellen Tod sterben und ihm keine juristischen Schwierigkeiten machen. Er würde aber den ganzen Container loswerden und einen neuen kaufen müssen. Außerdem war ein fehlender Container an sich schon verdächtig bei einer Kontrolle, und in dem zweiten befanden sich schließlich zwei Kilo Kokain.
Zweitens: die menschliche Variante. Karuga konnte die Personen, die da drinnen anscheinend noch am Leben waren und die Fuchs so dringend loswerden wollte, in sein Schiff lassen. Was aber, wenn es gesuchte Terroristen waren – oder was auch immer? Das Risiko war enorm. Außerdem könnten sie vom Giftmüll kontaminiert sein.
Er lief im Fitnessraum auf und ab. Für die blinden Passagiere tickte die Uhr – sie würden da drin nicht ewig aushalten.
Karuga kam endlich ein Argument für die zweite Variante in den Sinn: Wenn die Frau da drinnen noch am Leben war, konnte sie ihm helfen, Fuchs zu finden. Er könnte das Ganze als Rachefeldzug bei der Firma einreichen und Unkosten plus Bonus einkassieren. Vorher noch im Firmenbüro in Molech ein paar Waffen mitnehmen – und dem Hurensohn Fuchs das Gesicht wegblasen.
Die Entscheidung war gefallen.
Hastig zog er seinen orangenen Gummianzug an, steckte seine kleine Dienstpistole in die Tasche, schaltete die Lampen an der Gasmaske ein und öffnete die enge Stahltür zum Frachtraum. Das Klopfen und Schreien war verstummt.
Langsam entriegelte Karuga den Container, nahm die Pistole in die rechte Hand und zog mit der linken das Tor auf. Die austretende Luft hatte eine ekelerregende Wärme an sich, und die Mischung aus süßlicher und salziger Verwesung drang durch die Maske.
Die Innenwände des Containers waren porös, das Metall angefressen von der jahrelangen Giftmüllbelastung. In seiner Mitte stand die Stuktur, dieser angebliche Reaktor, den Karuga auf Klosterbrocken aufgeladen hatte. Zum ersten Mal nüchtern betrachtet, kam ihm das Objekt sehr sargartig vor. Es war kantig, unten etwas dünner als oben, und schmutzig. Die weißen Plastikteile waren im Gegensatz zum schwarzen Stahl blitzblank.
Der Bauch des Gebildes stand offen; eine der schmierigen Stahlplatten hatte sich gesenkt und offenbarte einen weißen Innenraum. Karuga ging etwas näher heran. Auf dem Boden des Raums schienen Blumen zu wachsen – sie sprossen direkt aus dem glänzend weißen Kunststoff heraus und verzierten ihn mit ihren rosanen, violetten und weißen Blüten. Von der hohen Decke hingen bluttriefende Gedärme kreuz und quer herunter und besudelten alles andere. Der Gestank war fürchterlich und verursachte ein flaues Gefühl in Karugas sonst eisernem Magen. Ein Geräusch erklang aus dem Herzen des Konstrukts, wie das Flüstern eines kleinen Bachs im Wald.
Der ganze Anblick war furchtbar bizarr und ließ Karuga für einen ängstlichen Moment an eine Art Biowaffe denken. Doch er ging trotzdem weiter, folgte blutigen Fußabdrücken um den Sarg herum und kam bei einer Frau an, die bewusstlos auf dem Boden lag.
Sie trug etwas, das wie eine Mischung aus Sportbekleidung und königlichen Gewändern aussah – ein hautenger, dehnbarer Stoff mit weiteren, locker fallenden Schichten über Brust und Hüfte, in Weiß, Blau und Gold, alles voller Stickereien, seltsamer Wappen und nordisch anmutender Runenschrift.
Karuga vergewisserte sich, dass niemand anders anwesend war – er warf sogar noch einen Blick in den ekelerregenden Innenraum – und rüttelte sie dann an der Schulter.
Ihr Haar fiel zur Seite und gab den Blick auf ein kantiges Gesicht mit schmalen Lippen frei, doch sie blieb bewusstlos. Das Schreien und Klopfen musste sie das letzte bisschen Kraft gekostet haben.
Die Frau wog vielleicht halb so viel wie Karuga, also trug er sie auf der Schulter aus dem Container heraus.
Im Gang Richtung Cockpit fiel ihm auf, dass er nicht vernünftig vorgeplant hatte. Die Frau und ihre Klamotten waren vielleicht voller Giftmüll, und er hatte keine Plastikplane oder so etwas auf das Sofa gelegt, das seine einzige Schlafgelegenheit darstellte.
Aber bewusstlos, wie sie war, konnte er sie auch schlecht in die Badewanne legen. Scheiß drauf, beschloss er, dann muss ich das Laken halt tauschen.
Er legte die Frau auf das Sofa. Wangentätscheln, Ruckeln, Schreien, sogar leichte Ohrfeigen konnten sie aus ihrer Bewusstlosigkeit nicht befreien.
Karuga erinnerte sich dunkel an eine Ashintur-Pflichtschulung über ein Produkt namens OMNI-GEGENGIFT der Firma POLYTOX. Die Begriffe hatten sie ganz oft wiederholt, doch wo im Schiff war das verdammte Ding?
Karuga sah im Badezimmer nach – einfach, weil es der logische Ort schien – und fand tatsächlich eine Spritze mit der Aufschrift „POLYTOX OMNI – Gegen alle üblichen Vergiftungen“, aber keine Packungsbeilage oder sonstige Hinweise.
Auf der Spritze fand er auch keine Anleitung, also jagte er sie der fremden Frau kurzerhand in den Oberschenkel und drückte den Pfropfen herunter. Es folgten einige Minuten angespannten Wartens.
Beim nächsten Ruckeln an der Schulter gingen endlich ihre Augen auf.
„Das Wasser ist zu kalt“, sagte sie ernst. Ihr durchdringender Blick wanderte durch den Raum und landete schließlich auf Karuga. „Die Pferde werden sich erkälten.“
„Ich glaube, wir sind noch nicht ganz bei Bewusstsein“, sagte er. „Geht es Ihnen gut?“
„Zu kalt“, hauchte sie, und ihre Augen fielen wieder zu.
Karuga tätschelte nicht besonders sanft ihre Wange. „Hallo. Hierbleiben.“
Widerwillig hoben sich ihre Lider.
„Sie haben eine Vergiftung. Wahrscheinlich toxische Dämpfe eingeatmet. Wir müssen Sie aus diesen Klamotten rauskriegen. Kontamination. Gift. Verstehen Sie mich?“
„Es sind maximal drei Kilometer bis zur Furt. Maximal. Wir hätten einfach dorthin gehen können.“
Jetzt klang sie etwas genervt. Karugas Geduld ging ebenfalls zur Neige – er hatte das Gefühl, dass jede Sekunde mehr Giftdämpfe in sein geliebtes Sofa eindrangen, während die Frau darauf lag und Nonsens redete.
„Ich bin Karuga. Was ist dein Name?“, versuchte er es.
„Maya Machida.“
„Gut, Maya Machida. Du musst aus diesen Klamotten raus. Und duschen. Okay? Ich trage dich jetzt in die Badewanne.“
„Ein warmes Bad wäre herrlich, Mathilda.“
„Ich bin nicht Mathilda“, murmelte Karuga leise, aber alles in allem war er froh darüber, dass sie den Vorschlag angenommen hatte.
Vorsichtig nahm er sie auf und trug sie zum Badezimmer, wo er sie in der Wanne ablegte.
„Sekunde“, sagte er, verließ hastig den Raum und kam mit einem frischen Handtuch, einer Jogginghose, einer Boxershorts, einem T-Shirt, einem Unterhemd und einer Mülltüte zurück.
Ihre Augen waren schon wieder halb geschlossen.
„Maya?“
„Rüdiger ist zu alt, die Gelenke machen nicht mehr mit“, murmelte sie.
„Nein, nein. Maya, Augen zu mir.“ Er schnippte mit den Fingern. Maya sah ihn ein wenig erschrocken an.
„Maya, du bist gerade in Gefahr, okay? Du musst alles, was du am Körper trägst, ausziehen und in diese Tüte hier stopfen. Dann duschst du dich gründlich ab, und dann ziehst du diese Klamotten hier an. Fass sie auf gar keinen Fall nach dem Duschen wieder an. Sie sind verseucht. Hast du das verstanden?“
Sie nickte, doch Karuga war nicht ganz überzeugt.
„Ich lasse dich jetzt alleine. Du verstehst, was du zu tun hast?“
„Waschen, Klamotten nicht anfassen. Geh schon.“ Endlich klang sie wach.
Karuga schloss die Tür und ging zur Waschküche. Dort warf er seine Kleidung in den Abfallschacht, wusch sich am Waschbecken und zog sich frische Sachen aus dem Schmutzhaufen. Erleichtert hörte er, dass im Bad das Wasser lief.
Er klopfte an die Tür. „Geht es dir gut?“
„Ja“, rief sie zurück. „Ich brauche noch eine Weile.“
„Lass dir Zeit. Und fass die alten Klamotten nicht an.“
„Ich weiß.“
Karuga holte ein paar Einweghandschuhe aus der Waschküche, ging zum Cockpit, zog den Bezug des Sofas ab und warf ihn zusammen mit den Handschuhen in den Müll. Dann setzte er sich und zündete eine Zigarette an.
Es gab einen Ort für Chaos, Kampf und Improvisation für ihn, und das war außerhalb des Schiffs. Das Innere des Schiffs war ein Ort für Routine und Einsamkeit. Diese Übertretung seiner persönlichen Trennlinie stieß Karuga bitter auf, und er nahm sich vor, die Situation so schnell wie möglich aufzulösen und zur Normalität zurückzukehren.
Maya stand in der Tür, Karugas Klamotten tragend. Ihre Füße verschwanden in den zu langen Enden der Hosenbeine, das Shirt ging ihr bis über die Hüfte.
„Es wäre echt nett, wenn du hier drinnen nicht rauchen würdest“, sagte sie im Ton einer tadelnden Ehefrau.
Karuga drehte sich langsam zu ihr um. Gefasst, aber mit einem drohenden Unterton antwortete er: „Ich glaub, du hast sie nicht alle. Hab ich dir gerade das Leben gerettet oder nicht?“
Sie sah ihn fragend an.
„Das hier ist mein Schiff. Wer zur Hölle bist du überhaupt, was machst du in meinem Container?“
„Ich war in einem Container? Wie ein Müllcontainer?“
„In diesem Falle ja.“
„Oh Gott. Ist das Memorion intakt?“
„Keine Ahnung, was das sein soll.“
„Die Kapsel. Die Kapsel, in der ich gelegen habe.“
„Der Sarg mit den Gedärmen drin ist noch da. Jetzt erklär mir bitte, was zur Hölle das ist.“
Sie atmete erleichtert aus. „Gut. Es wäre eine Tragödie, wenn wir eines verschwendet hätten.“
Karuga drückte wütend die Zigarette aus. „Ich muss jetzt wissen, wie du da reingekommen bist und was dieses Teil ist.“
„Was dieses Gerät wirklich ist, würdest du nicht verstehen, wenn ich es dir zwei Jahre lang erklären würde“, sagte sie arrogant. „Bring mich zu einem Planeten. Einem mit Stein und Wasser.“
„Ich glaube, du missverstehst grundsätzlich, in was für einer Situation du dich befindest.“
Er stand auf und ging zu Maya herüber. „Ich habe dich aus dem Müll gefischt, und jetzt bist du ein Stück illegaler Fracht auf einem Ashintur-Frachter. Das ist keine Situation, in der man Forderungen stellt. Meine beste Option ist immer noch, dich und deine Gedärmekiste ins Vakuum zu werfen. Ist dir das bewusst?“
Jetzt sah Maya zum ersten Mal verzweifelt aus. „Was ist Ashintur?“
„Wie kannst du noch nie von Ashintur gehört haben? Es ist ein Unternehmen. Ein großes. Die Art von Unternehmen, das ein eigenes Militär hat. Und du bist bis auf weiteres Eigentum dieses Unternehmens.“
„Du bist kein Diener von Arodel? Kein Haifischritter, nicht mal ein Apostel?“
Karuga schüttelte den Kopf. „Ich glaube, du bist noch nicht ganz bei dir.“
Maya atmete tief ein und nickte, wie zu sich selbst. „Gut. Damit können wir umgehen. Damit müssen wir umgehen.“
„Wer ist Robert Fuchs?“
„Ich kenne keinen Robert Fuchs.“
Karuga ging schlagartig die Geduld aus. Er ging einen Schritt vorwärts und ballte die rechte Hand vor ihrem Gesicht zur Faust. Er hatte nicht vor, sie zu schlagen – die Drohung würde hoffentlich ausreichen.
„Der Mediator. Robert Fuchs, der Mittelsmann auf Klosterbrocken, der mir die Kiste angedreht hat, in der du lagst. Letzte Chance – wer ist er?“
Ihre Augen wurden weit. Sie starrte an Karuga vorbei.
Er wurde lauter. „Wer ist Robert Fuchs, was ist die Kiste für eine Maschine, und warum warst du dort drin?“ Er legte zwei Finger der rechten Hand an ihr Schlüsselbein und drückte sie an die Wand – nicht fest, aber fest genug.
Sie starrte weiter an Karuga vorbei und atmete schnappartig. „Ich weiß es nicht. Das war alles nicht so geplant. Als ich das letzte Mal wach war, war ich auf Alamut. Das muss Jahre her sein.“ Ihre Stimme wurde schwächer, beinahe schluchzend. „Ich weiß nicht, wer Robert Fuchs ist. Als ich das Memorion betreten habe und eingeschlafen bin, war ich eine Prinzessin von Tegelhalm. Jetzt bin ich auf einem stinkenden Frachtschiff …“
„Es stinkt hier, weil du ja unbedingt in einem Müllcontainer mitreisen wolltest. Hätte ich die Tür geschlossen lassen sollen?”
Sie hob in einer verzweifelten Geste die Hände in die Luft und fing an zu weinen.
Karuga ließ von ihr ab. Was bin ich nur für ein A********, dachte er. Das kleine Ding wäre beinahe gestorben, ist immer noch vergiftet und vollkommen verwirrt. Ich hätte sie nicht so einschüchtern sollen – sie ist gerade gar nicht in der Lage, mir zu sagen, was ich wissen muss.
„Hey, hey“, sagte er in einem Ton, der hoffentlich beschwichtigend genug klang. „Ich werde dir nichts tun, okay? Es tut mir leid. Du hast ein bisschen was durchgemacht, du musst jetzt erstmal wieder auf die Beine kommen. Und dann können wir reden. Okay?“
Sie nickte schluchzend. Unter weiter fließenden Tränen sagte sie schließlich: „Ich hab Hunger.“
Die nächste Stunde verbrachte Karuga in der Küche. Die Wünsche der angeblichen Prinzessin waren tatsächlich recht prinzessinnenhaft: Sie fragte ständig nach irgendwelchen Kräutern und Körnern, um das Essen etwas interessanter zu machen, doch Karuga hatte nichts davon auf Lager – und von den meisten Dingen überhaupt noch nie gehört.
Sie aß wie ein Bär. Nach den ersten zwei riesigen Gängen aus Bohnen, Reis und Fleisch verlangte sie einen Nachtisch, was Karuga verneinte. Doch sie bettelte förmlich und brauchte keine dreißig Sekunden, um sein Herz zu erweichen. Kurz darauf stand er wieder in der Küche und rührte Vanillearoma in einen Quark ein. Er fand sogar noch eine Packung Kürbiskerne – und da sie ständig nach irgendwelchen Körnern und Samen gefragt hatte, streute er eine Handvoll darüber.
Stolz servierte er ihr seine Kreation, doch sie murmelte nur enttäuscht: „Oh. Kürbiskerne“, und aß dann vorsichtig um sie herum, als wären sie giftig.
Karuga überprüfte im Cockpit die Reaktortemperatur, als sie hereinkam und sich schnurstracks auf das Sofa legte. Offensichtlich war sie endlich satt.
„Stop“, sagte Karuga. „Das ist mein Platz.“
„Und wo schlafe ich?“
Karuga fiel auf, dass er sich darüber noch gar keine Gedanken gemacht hatte. Kurzerhand nahm er eine Decke aus dem Trockner, eins seiner Kissen vom Sofa, und legte sie auf die Gymnastikmatte im Fitnessraum. „Bitteschön, eure Hoheit.“
Maya schien plötzlich wieder emotional. Sie gab Karuga eine lange Umarmung. „Danke. Danke, Kruga.“
„Karuga.“
„Entschuldigung. Kannst du mein großer Bruder sein auf dieser Reise?“
Was für eine seltsame Frage. – „Natürlich“, sagte Karuga, in der Hoffnung, dass sie sich an diese ganze wirre Konversation nicht erinnern würde. Er wollte sie beruhigen, damit sie sich endlich schlafen legte und hoffentlich bei klarem Kopf wieder aufwachen würde.
Und es schien funktioniert zu haben, denn in der Sekunde, in der ihr Kopf das Kissen berührte, war sie wie ausgeknockt.
Karuga navigierte eine Weile, kochte sich sein Essen, ließ die Route neu berechnen – das Übliche –, doch er erledigte alles mit einer nervösen Eile. Nach zwölf Stunden schlief sie immer noch, und Karuga nahm sich vor, sie weder zu wecken noch selbst einzuschlafen, bevor sie wieder wach wäre. Doch bei Stunde zwanzig machte er schlapp und nickte auf dem Sofa ein.
Als er die Augen öffnete, stand Maya vor ihm – in angespannter Haltung. Sie hatte die Beine der zu langen Hose hochgekrempelt und hielt ein Fleischmesser aus der Küche in der linken Hand.
Karuga richtete sich auf. „Nein, nein. Das lassen wir bleiben.“
„Du stehst Dingen im Weg, die größer sind als du“, sagte sie kalt.
„Und was willst du dagegen machen?“
„Nimm Kurs auf einen Planeten mit Stein und Wasser. Und da setzt du mich und das Memorion ab.“
„Wir sind auf der Route nach Molech. Da gibt es kein Wasser. Wir hatten dieses Gespräch schon, Maya. Du bist nicht in der Position, Forderungen zu stellen.“
Er plusterte sich auf, versuchte ihr klarzumachen, dass er schlicht und einfach größer und stärker war – doch das Messer machte ihm Sorgen. Er ging einen Schritt vorwärts, sie einen zurück.
„Lass es fallen.“
Zu seiner großen Überraschung tat sie genau das. Die Klinge fiel klimpernd zu Boden. Den Blick auf das Messer zu wenden, stellte sich als Fehler heraus, denn Maya nutzte diesen Moment, um die Hüfte zu drehen und einen meisterhaften Kopftritt vorzubereiten. Karuga sah den nackten, schmutzigen Fuß noch in Richtung seiner Schläfe fliegen, dann gingen die Lichter aus.
Aber nur für einen Moment. Karuga kam am Boden wieder zu sich, mit dem Rücken am Sofa. Instinktiv schützte er das Gesicht mit den Händen, gerade rechtzeitig, um einen harten Schlag abzuwehren. Wieder und wieder boxte Maya auf ihn ein. Er vergrub das Gesicht in den Händen und versuchte, sich aufzurichten. Sie zielte auf seinen ungeschützten Hinterkopf und landete ein paar mittelschwere Treffer.
Sobald er Boden unter den Füßen hatte, machte Karuga einen Satz vorwärts und packte seine Gegnerin an der Hüfte. Ohne große Anstrengung hob er sie in die Luft und warf sie in den Gang, ging auf ihr in die Hocke und setzte einen Schlag auf ihr Kinn an. Er war in diesem Moment schon vom Sieg überzeugt, doch zu seinem Erstaunen parierte sie, stieß sich am Sofa ab, um unter ihm hindurchzurutschen und ihre Beine zu befreien, und gab ihm einen festen Tritt, der seinen Hoden sehr knapp verfehlte und am inneren Oberschenkel landete.
Karuga gelobte, diese Irre kein zweites Mal zu unterschätzen, klemmte ihre Beine in seine ein und ließ seinen Ellenbogen wieder und wieder auf ihren Kopf donnern, bis ihre Deckung versagte und er sie mit einem Kopftreffer schlafen legte. Dabei verursachte er eine Platzwunde und versaute das ungeschützte Sofa, das immer noch keinen neuen Bezug darauf hatte.
Sie kam einen kurzen Moment später wieder zu sich. Karuga saß bereits mit angezündeter Zigarette auf seinem Stuhl, blickte auf sie herunter und sprach, ohne die Stimme zu heben: „Maya, versuch so einen Scheiß nochmal, und ich muss dich umbringen.“
Ab diesem Punkt wurde die Konversation erstaunlicherweise entspannter. Vielleicht hatte ihr Gehirn den Knockout gebraucht, um sich wieder zu kalibrieren, jedenfalls gab sich die Prinzessin plötzlich recht umgänglich, entschuldigte sich mehrfach für den Angriff und sagte, sie habe nicht gewusst, was sie tat.
Ein Teil von Karuga wollte sie natürlich zurück in den Container stopfen und damit das Risiko für sich minimieren, aber er konnte nicht anders, als sie nach dem Angriff viel sympathischer zu finden als vorher. Sie hatte ihn wach werden und aufstehen lassen, bevor sie ihm ins Gesicht getreten hatte - ein Kampf, kein Hinterhalt. Und was für ein eleganter Tritt, vorbereitet von der Finte mit dem Messer – wunderschön. Sein Instinkt beharrte darauf, dass die Frau die Wahrheit sagte und ihm keine Probleme mehr machen würde. Der Anfall war sicherlich nur ein Resultat der abklingenden Verwirrung gewesen. Diese Entscheidung war zwar dumm, das sah Karuga durchaus, aber nichtsdestotrotz bereits getroffen, bevor er sie in Frage stellen konnte. Er rationalisierte das Ganze damit, dass man laut Ashintur-Regeln blinde Passagiere lebendig an der nächsten medizinischen Einrichtung absetzen sollte (manchmal schrieben sie auch LEBENDIG in Großbuchstaben, es hatte in der Vergangenheit Missverständnisse gegeben). Also schüttelte er ihre Hand und bedankte sich aufrichtig für den guten Kampf.
Leider blieb Maya bei der Geschichte, sie sei auf irgendeinem Planeten in die Kapsel gepackt worden, die anscheinend Memorion hieß und eine Art Transportbox für sie darstellte, und kenne keinen Robert Fuchs oder Mediator. Als er sie auf die Prinzessinnenbehauptung ansprach, schwieg sie betreten.
Das machte ihm Hoffnung, sie würde vielleicht langsam zu Sinnen kommen, die Wahnvorstellungen loswerden und sich in ein paar Tagen auch wieder an Robert Fuchs erinnern können.
Sie dankte ihm endlich für die Rettung und bot ihm an, auf dem Schiff auszuhelfen, so gut sie könne. In denselben Satz baute sie noch ein, dass sie es zwar sehr wertschätze, dass Karuga ihr Essen gemacht hatte, aber sie einige Entscheidungen in der Küche anders getroffen hätte. Und so fanden sie ihre Aufgabenteilung.
Sie redeten nicht viel, sondern existierten sofort einfach nebeneinander, als wären sie schon seit Ewigkeiten Mitbewohner. Maya kochte erstaunliche Gerichte aus den Pulvern und Konserven in Karugas Schrank und verbrachte den Rest ihrer Zeit mit Meditation und Dehnübungen in ihrem neuen Zimmer.
Karuga machte seine Arbeit so wie immer. Wenn er trainieren wollte, ging Maya in die Küche. Es war kein schlechter Deal für ihn, und er beschloss, das arme Ding sich erholen zu lassen und sie bei Molech noch einmal zu verhören. Vielleicht wäre ihr Erinnerungsvermögen bis dahin wieder intakt.
Sie brauchte nur zwei Tage, um Karuga den Floh ins Ohr zu setzen, dass es im Fitnessraum zu kalt wäre, sodass er ihr von sich aus das Sofa als Schlafplatz anbot und auf die weniger gemütliche Sportmatte umzog. Karuga fühlte sich ein bisschen manipuliert, aber ihr Essen war zu gut und ihr Gesicht zu kränklich, als dass er wirklich sauer werden konnte.