Michael Iwoleit: Der Moloch
Verfasst: 13. Februar 2020 13:21
Michael Iwoleit: Der Moloch // Rezension von Frank Hebben
»Und was ist ... Terroir?«
»Ein Begriff aus der Weinkunde«, sagte Whitby. […] »Er bedeutet das spezifische Charakteristikum eines Ortes – Geografie, Geologie und Klima, die gemeinsam mit der weineigenen genetischen Disposition einen überraschenden, tiefen, originären Wein hervorbringen können. […] Die direkte Übersetzung lautet ‚Gespür für einen Ort‘, und das bedeutet die Summe aller Einwirkungen auf einen örtlich beschränkten Lebensraum, insofern sie die Eigenschaften eines bestimmten Produkts betreffen. Das kann Wein sein, aber was passiert, wenn man diese Kriterien beim Nachdenken über Area X anwendet?«
[Jeff Vandermeer: Autorität]
Soweit ich mich entsinne, habe ich vor ein paar Jahren auf dem Rücken der Kurzgeschichtensammlung vom Michael – (Die letzten Tage der Ewigkeit) – folgenden Spruch hinterlassen:
Iwoleit ist der Architekt. Und nein: Du willst in seinen Welten nicht leben.
Obwohl Michael – wie auch Mr. Vandermeer, um kurz den Bogen zur Intro zu schlagen – die Charakterführung beherrscht; seine Protagonisten weder schablonenhaft wirken, noch künstlich, steif oder vorhersagbar: eben: keine Abziehbilder sind, transzendiert doch alles, der Plot, die Handlung, nach und nach zu etwas Größerem, Gewaltigerem.
Wie Area X wird im Moloch eine (Städte-)Landschaft beschrieben: das Ruhrgebiet; in dem, pars wie toto, eine Unterströmung zu spüren ist: mit allen Sinnen erfassbar, aber eben doch nicht greifbar: Es entzieht sich in letzter Instanz; der Blick hinter den Spiegel ist nicht möglich.
Was man sieht, ist die nackte Realität: die Enge, unter und über der Erde: in stillgelegten Schachtanlagen, am Rheinufer – den Dreck und den Verfall. Degenerierte Menschen, kaputte Technik, ein Slum, ein Leben am Abgrund, wenn man nicht in den besseren Franchise-Vierteln ein privilegiertes, wenn auch steriles, schablonenhaftes Leben aus Arbeit und Konsum führt; das eben genauso wenig erstrebenswert ist wie am mit Chemikalien- und Fäkalien-verseuchten Fluss seine Wäsche zu waschen.
In seiner Kurzgeschichte „Das Urteil“ wirkt noch ein außerirdischer, somit möglicherweise guter, göttlicher Wille, der „die Völker“ dazu zwingt, sich zu vereinen – allerdings mit wenig Erfolg:
„Von ihm stammt der bemerkenswerte Satz, dass all das, was wir an Menschen für wertvoll erachten – Würde, Individualität, Empfindungsfähigkeit – mit der Anzahl der Menschen, die wir an einem Ort zusammenbringen, nicht etwa zu-, sondern abnimmt und sich ab einer Grenze, an der der Einzelne zu einem sinn- und zwecklosen Ding unter vielen wird, ganz auflöst. Ähnliches haben Soldaten berichtet, die durch die Menge patrouillierten, um Tote einzusammeln; Helfer an den Pavillons, die bis zur vollkommenen Erschöpfung Wasser, Fladenbrote und Gemüsesuppen austeilten und am Ende das Gefühl hatten, ein einziges unersättliches Monstrum mit Millionen Mäulern zu füttern; Arbeiter, die in die Abwässerkanäle stiegen, um Stauungen zu beseitigen, und die Massen, die sich an den Rand der Kanäle drängten und zuweilen jemanden in die Jauche stießen, als die größte Quelle von Dreck und Fäkalien erlebten, die im Universum denkbar ist. Über den alten Gemeinplatz, wonach der Krieg das Schlimmste im Menschen zum Vorschein bringt, haben alle Beteiligten nach diesem Tag nur noch lachen können. Es reicht viel weniger, um einem den Glauben an den göttlichen Ursprung des Menschen auszutreiben. Nimm einen, und kannst in ihm vielleicht ein Gegenüber mit Verstand und Würde erkennen. Nimm eine Milliarde, und die einzigen Instrumente, die ihnen beikommen, sind Statistik und Logistik.“
Jetzt, im Moloch, wirkt nur die unsichtbare Hand des Kapitals.
Sina, Ärztin – erste Hauptprotagonistin, folgt seit Jahren ihrer intrinsischen Neigung, Gutes zu tun. Anderen Menschen zu helfen. Sich nicht machtlos, hilflos zu fühlen in einer neoliberalen Welt, in der jedes Individuum auf seine Nutzbarkeit reduziert wird. Eine Gemeinschaft zu stiften; eben: die Zivilisation als solche voranzubringen, deren Devolution zu verlangsamen oder gar zu stoppen: den Hass, die Hetze in dieser kalten, technoiden Welt.
Mit durchwachsenem Erfolg.
Andere übernehmen das Ruder. Und sind so viel erfolgreicher mit ihren Plänen und Zielen, dass Sina nur staunend daneben stehen kann und zusieht, zum reinen Zuschauer degradiert, um sich dann – aus einem Impuls heraus – völlig in dieser Neuen Ordnung zu verlieren, zwischen der Hitze, im Schweiß und Blut einer menschlichen Masse, die vor Leben nur so pulsiert!
Kiran, Techniker – zweiter Hauptprotagonist, ein Überlebenskünstler, ein Tänzer auf den Stromseilen, hat seine eigenen, wenn auch nicht immer legalen Methoden, in dieses Terroir manipulierend einzugreifen. Im verzweifelten Versuch, seine Geliebte: Sina, aus diesem stinkenden Sumpf zu befreien, sinkt er dabei immer tiefer ein in ein zähes Geflecht aus Kabeln und Neuronen, aus Strom, Biomasse, Muskeln; aus Enge, Licht und klaustrophobischen Schatten.
Man kann das Buch an beliebiger Stelle aufschlagen, um einen Eindruck vom dichten „Filz“ zu erhalten: hier:
„Es dämmerte inzwischen. Trübes, rötliches Licht drang durch die Ritzen der Bretter und rostdurchlöcherten Bleche. Von fern hörte Kiran aufgeregtes Geschrei.“ (S.71)
Oder:
„Als sie sich übers Geländer beugte und Kiran hinterher schaute, stockte Sina der Atem von dem faulig-chlorigen Mief, der aus den graublauen, schlammigen und von öligen Schlieren durchsetzen Rheinfluten emporstieg […].“ (S.79)
Oder:
„Sina und die beiden anderen Frauen – frisch examinierte, mit erfrischender jugendlicher Naivität gesegnete Krankenschwestern, die bei den Medics for Men gerade einen ernüchternden Schuss Wirklichkeit injiziert bekamen – hatten ihre Taschen auf die Schöße genommen und wechselten immer wieder, gepresst schnaufend, gequälte Blicke.“ (S.152)
Oder:
„Sinas Blick ging hin und her, versuchte Einzelheiten festzuhalten, doch die Vielzahl an Körpern, Gliedern und Gesichtern, von Kindern, Säuglingen, entblößten Brüsten, Bäuchen, Wunden, Lumpen und an knochige Brustkästen gedrückte Habseligkeiten, verwischte zu einem graubraunen Rauschen.“ (S.168
Alles trieft vor menschlichem Elend und Verfall.
Aber Iwoleit bleibt nicht im Sumpf stecken, in dieser Apathie und Trostlosigkeit des Szenarios, sondern skizziert in seinem apokalyptischen Gemälde einer babylonischen Stadt auch den Ausweg aus der Krise:
Er zeigt, auch dem Leser, Wege auf, die man gehen könnte – sofern genügend Wille und/oder Geld vorhanden ist. Als Mahnung für uns selbst.
Wie bei Dune; wie bei Auslöschung, ist also das Setting, das Szenario der eigentliche Star. Das Terroir. Die Quintessenz aus Manipulatoren und Manipulierten – aus Leibern, Technik, Gift, Drogen, Malware, Hacks, Mutanten, Tieren, Essen; Leben, Liebe, Tod.
Als Kritik: Obwohl am Ende tatsächlich alles in der Fluchtperspektive zusammenfällt, bleibt doch der schale Nachgeschmack, dass es irgendwie anders hätte sein sollen – die Auflösung (sic!) des Ganzen dramaturgisch besser hätte inszeniert werden können.
Auch viele Rechtschreibfehler trüben den Lesegenuss.
Frank Hebben, 13.02.2020
»Und was ist ... Terroir?«
»Ein Begriff aus der Weinkunde«, sagte Whitby. […] »Er bedeutet das spezifische Charakteristikum eines Ortes – Geografie, Geologie und Klima, die gemeinsam mit der weineigenen genetischen Disposition einen überraschenden, tiefen, originären Wein hervorbringen können. […] Die direkte Übersetzung lautet ‚Gespür für einen Ort‘, und das bedeutet die Summe aller Einwirkungen auf einen örtlich beschränkten Lebensraum, insofern sie die Eigenschaften eines bestimmten Produkts betreffen. Das kann Wein sein, aber was passiert, wenn man diese Kriterien beim Nachdenken über Area X anwendet?«
[Jeff Vandermeer: Autorität]
Soweit ich mich entsinne, habe ich vor ein paar Jahren auf dem Rücken der Kurzgeschichtensammlung vom Michael – (Die letzten Tage der Ewigkeit) – folgenden Spruch hinterlassen:
Iwoleit ist der Architekt. Und nein: Du willst in seinen Welten nicht leben.
Obwohl Michael – wie auch Mr. Vandermeer, um kurz den Bogen zur Intro zu schlagen – die Charakterführung beherrscht; seine Protagonisten weder schablonenhaft wirken, noch künstlich, steif oder vorhersagbar: eben: keine Abziehbilder sind, transzendiert doch alles, der Plot, die Handlung, nach und nach zu etwas Größerem, Gewaltigerem.
Wie Area X wird im Moloch eine (Städte-)Landschaft beschrieben: das Ruhrgebiet; in dem, pars wie toto, eine Unterströmung zu spüren ist: mit allen Sinnen erfassbar, aber eben doch nicht greifbar: Es entzieht sich in letzter Instanz; der Blick hinter den Spiegel ist nicht möglich.
Was man sieht, ist die nackte Realität: die Enge, unter und über der Erde: in stillgelegten Schachtanlagen, am Rheinufer – den Dreck und den Verfall. Degenerierte Menschen, kaputte Technik, ein Slum, ein Leben am Abgrund, wenn man nicht in den besseren Franchise-Vierteln ein privilegiertes, wenn auch steriles, schablonenhaftes Leben aus Arbeit und Konsum führt; das eben genauso wenig erstrebenswert ist wie am mit Chemikalien- und Fäkalien-verseuchten Fluss seine Wäsche zu waschen.
In seiner Kurzgeschichte „Das Urteil“ wirkt noch ein außerirdischer, somit möglicherweise guter, göttlicher Wille, der „die Völker“ dazu zwingt, sich zu vereinen – allerdings mit wenig Erfolg:
„Von ihm stammt der bemerkenswerte Satz, dass all das, was wir an Menschen für wertvoll erachten – Würde, Individualität, Empfindungsfähigkeit – mit der Anzahl der Menschen, die wir an einem Ort zusammenbringen, nicht etwa zu-, sondern abnimmt und sich ab einer Grenze, an der der Einzelne zu einem sinn- und zwecklosen Ding unter vielen wird, ganz auflöst. Ähnliches haben Soldaten berichtet, die durch die Menge patrouillierten, um Tote einzusammeln; Helfer an den Pavillons, die bis zur vollkommenen Erschöpfung Wasser, Fladenbrote und Gemüsesuppen austeilten und am Ende das Gefühl hatten, ein einziges unersättliches Monstrum mit Millionen Mäulern zu füttern; Arbeiter, die in die Abwässerkanäle stiegen, um Stauungen zu beseitigen, und die Massen, die sich an den Rand der Kanäle drängten und zuweilen jemanden in die Jauche stießen, als die größte Quelle von Dreck und Fäkalien erlebten, die im Universum denkbar ist. Über den alten Gemeinplatz, wonach der Krieg das Schlimmste im Menschen zum Vorschein bringt, haben alle Beteiligten nach diesem Tag nur noch lachen können. Es reicht viel weniger, um einem den Glauben an den göttlichen Ursprung des Menschen auszutreiben. Nimm einen, und kannst in ihm vielleicht ein Gegenüber mit Verstand und Würde erkennen. Nimm eine Milliarde, und die einzigen Instrumente, die ihnen beikommen, sind Statistik und Logistik.“
Jetzt, im Moloch, wirkt nur die unsichtbare Hand des Kapitals.
Sina, Ärztin – erste Hauptprotagonistin, folgt seit Jahren ihrer intrinsischen Neigung, Gutes zu tun. Anderen Menschen zu helfen. Sich nicht machtlos, hilflos zu fühlen in einer neoliberalen Welt, in der jedes Individuum auf seine Nutzbarkeit reduziert wird. Eine Gemeinschaft zu stiften; eben: die Zivilisation als solche voranzubringen, deren Devolution zu verlangsamen oder gar zu stoppen: den Hass, die Hetze in dieser kalten, technoiden Welt.
Mit durchwachsenem Erfolg.
Andere übernehmen das Ruder. Und sind so viel erfolgreicher mit ihren Plänen und Zielen, dass Sina nur staunend daneben stehen kann und zusieht, zum reinen Zuschauer degradiert, um sich dann – aus einem Impuls heraus – völlig in dieser Neuen Ordnung zu verlieren, zwischen der Hitze, im Schweiß und Blut einer menschlichen Masse, die vor Leben nur so pulsiert!
Kiran, Techniker – zweiter Hauptprotagonist, ein Überlebenskünstler, ein Tänzer auf den Stromseilen, hat seine eigenen, wenn auch nicht immer legalen Methoden, in dieses Terroir manipulierend einzugreifen. Im verzweifelten Versuch, seine Geliebte: Sina, aus diesem stinkenden Sumpf zu befreien, sinkt er dabei immer tiefer ein in ein zähes Geflecht aus Kabeln und Neuronen, aus Strom, Biomasse, Muskeln; aus Enge, Licht und klaustrophobischen Schatten.
Man kann das Buch an beliebiger Stelle aufschlagen, um einen Eindruck vom dichten „Filz“ zu erhalten: hier:
„Es dämmerte inzwischen. Trübes, rötliches Licht drang durch die Ritzen der Bretter und rostdurchlöcherten Bleche. Von fern hörte Kiran aufgeregtes Geschrei.“ (S.71)
Oder:
„Als sie sich übers Geländer beugte und Kiran hinterher schaute, stockte Sina der Atem von dem faulig-chlorigen Mief, der aus den graublauen, schlammigen und von öligen Schlieren durchsetzen Rheinfluten emporstieg […].“ (S.79)
Oder:
„Sina und die beiden anderen Frauen – frisch examinierte, mit erfrischender jugendlicher Naivität gesegnete Krankenschwestern, die bei den Medics for Men gerade einen ernüchternden Schuss Wirklichkeit injiziert bekamen – hatten ihre Taschen auf die Schöße genommen und wechselten immer wieder, gepresst schnaufend, gequälte Blicke.“ (S.152)
Oder:
„Sinas Blick ging hin und her, versuchte Einzelheiten festzuhalten, doch die Vielzahl an Körpern, Gliedern und Gesichtern, von Kindern, Säuglingen, entblößten Brüsten, Bäuchen, Wunden, Lumpen und an knochige Brustkästen gedrückte Habseligkeiten, verwischte zu einem graubraunen Rauschen.“ (S.168
Alles trieft vor menschlichem Elend und Verfall.
Aber Iwoleit bleibt nicht im Sumpf stecken, in dieser Apathie und Trostlosigkeit des Szenarios, sondern skizziert in seinem apokalyptischen Gemälde einer babylonischen Stadt auch den Ausweg aus der Krise:
Er zeigt, auch dem Leser, Wege auf, die man gehen könnte – sofern genügend Wille und/oder Geld vorhanden ist. Als Mahnung für uns selbst.
Wie bei Dune; wie bei Auslöschung, ist also das Setting, das Szenario der eigentliche Star. Das Terroir. Die Quintessenz aus Manipulatoren und Manipulierten – aus Leibern, Technik, Gift, Drogen, Malware, Hacks, Mutanten, Tieren, Essen; Leben, Liebe, Tod.
Als Kritik: Obwohl am Ende tatsächlich alles in der Fluchtperspektive zusammenfällt, bleibt doch der schale Nachgeschmack, dass es irgendwie anders hätte sein sollen – die Auflösung (sic!) des Ganzen dramaturgisch besser hätte inszeniert werden können.
Auch viele Rechtschreibfehler trüben den Lesegenuss.
Frank Hebben, 13.02.2020