Kurzgeschichte "Gründonnerstag"

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C.C.Thomas
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Kurzgeschichte "Gründonnerstag"

Ungelesener Beitrag von C.C.Thomas »

Liebes Forum,

zu Ostern habe ich den Gründonnerstag für euch neu interpretiert: dystopisch, mit Fokus auf eine achtsame Ernährung, wie ich sie mir in 2081 (schlimmstenfalls) vorstelle.

Viel Vergnügen!
Mehr Utopisches und Dystopisches zu 2081 unter: www.illusionistin.de



2081: Gründonnerstag

Immer, wenn in der Wohnung nebenan der Junge brüllt, beginnt mein Magen zu knurren. Ich erinnere mich an das Experiment mit dem Hund, der bei jedem Glockenschlag eine Wurst bekommt. Und irgendwann schon beim Ton der Glocke nach der Wurst geifert. Nur, dass es keine Wurst mehr gibt, für mich jedenfalls nicht.

Ich schaue auf die Uhr. Ja, es ist Zeit. Auf direktem Weg begebe ich mich in die Küche. Tatsächlich leuchtet das Signal der Luke grün. Ein Knopfdruck, und sie gibt das Tablett frei. Ich ziehe es aus der Luke, nicht zu hastig. Vor einigen Monaten war mir das Tablett aus der Hand gerutscht, und es hat mehrere Stunden gedauert, bis ein neues eingestellt wurde. Der Ersatz enthielt nur die halbe Portion. Ich habe es nicht reklamiert.

Unter der Abdeckung dampft es noch. Mit drei Schritten bin ich am Küchentisch. In dem Moment, wo ich die Abdeckung lüfte, kribbeln meine Fingerspitzen, immer noch. Die Raserei nebenan nimmt heute kein Ende. An guten Tagen sind es kurze Schreie. An schlechten jault der Junge über Stunden, wie ein Tier, das sich in Stacheldraht verheddert hat. Bald ist er ein ausgewachsener Mann, irgendwie beängstigend, oder nein, doch eher beruhigend.

Die heiße Komponente an diesem Mittag ist 80 g Kartoffelstampf, blassgelb. Die Masse ist zu flüssig für Püree, zu sämig für Suppe. Dazu zwei Crispy Bisquits, jeweils 75 g. Und eine Handvoll Spirulina. Meine EatWell-Watch zeigt das Gewicht an, aber ich schaue nicht nach. Was ist der Unterschied zwischen 50g oder 60g Algen?

Nach zwei Gabeln klopft es an meiner Tür. Meine Nachbarin steht davor, ihre Augen sind geschwollen. Durch die dünne Trennwand höre ich ihren Sohn nebenan wimmern.

– Ich glaube nicht, dass ich helfen kann, sage ich zur Begrüßung.

Wir brauchen nicht um den heißen Brei zu reden. Ihre magere Brust hebt und senkt sich, das kann auch das sackähnliche Kleid nicht verbergen. In den schlechten Phasen, wenn er wächst oder seinem Bewegungsdrang nachgibt, trägt sie immer weite Kleidung.

– Sein Fleisch ist nicht mitgekommen, das Labor hatte einen Stromausfall. Und sie haben ihm schon wieder den Nachtisch gestrichen, sagt sie mit brüchiger Stimme.

– Na ja, versuche ich sie zu beruhigen. Das mit dem Nachtisch ist ja nur zu seinem Besten, zuckerreduziert, dann ist er nicht so nervös. Zu viel Bewegung macht hungrig. Im nächsten Augenblick halte ich die Luft an. Habe ich das wirklich gesagt?

Sie schluchzt, macht zwei Fäuste, bis die Knöchel weiß hervorstehen. Ich schaue weg. Meine größte Sorge ist, dass die Kartoffelpfütze eiskalt wird, wenn ich das Gespräch nicht bald beende. Andererseits: Wann hatte die Arme wohl das letzte Mal eine volle Mahlzeit, ausgemergelt, wie sie da im Türrahmen kauert?

– Ich hatte auch schon lange kein Dessert mehr, sage ich. Wegen meiner Diabetes.

Nun stutzt sie, ich fühle mich gezwungen, mich zu erklären.

– Die Diabetes hat sich entwickelt, bevor wir an EatWell angebunden wurden.

Ich möchte jetzt an den Küchentisch zurück. Ist doch ihre Entscheidung, sich halb tot zu hungern. Für sie heiligt der Zweck die Mittel: Je schlechter ihre Biodaten, desto reichhaltiger werden die EatWell-Komponenten. Je voller ihr Tablett aus der Luke, desto leiser und unaufgeregter die Mahlzeiten mit ihrem Sohn, in der Wohnung nebenan. Schlau, wie sie das System an der Nase herumführt.

Auf dem Flur hören wir seine Wut, wie er jetzt drinnen tobt, dann ein Klirren, als hätte er ein Glas oder eine Vase zerschmettert. Wehmütig blickt die Nachbarin an mir vorbei. Die Küchentür steht auf, ihre Augen sehen sich an meinem Tablett satt, am Kartoffelgelb, am Grün der Spirulina. Dann wendet sie sich ab und schlurft zurück.

Am Abend kann ich kaum meinen Löffel auf dem Tablett klappern hören, der Sohn stiftet wieder Chaos in der Wohnung nebenan. Nach weiteren drei kläglichen Tagen habe ich selbst kaum mehr Appetit.

Es ist Donnerstag. Eine halbe Stunde vor dem grünen Licht verlasse ich die Wohnung, läute nebenan, noch bevor der Lärm losgeht.

– Hallo, klingt es dumpf durch die geschlossene Wohnungstür. Meine Mutter ist nicht da.

– Hallo, junger Mann, hier ist deine Nachbarin, sage ich. Mach doch mal auf.

Er zögert, das spüre ich. Wir haben kaum ein paar Worte miteinander gewechselt, obwohl wir schon lange Nachbarinnen sind, seine Mutter und ich. Sie stellt sich immer so schützend vor ihn. Als wäre ich es, die die Essenkomponenten einteilte, als würde ich ihm weniger geben, wenn ich ihn von oben bis unten anschaute und zu dem Schluss käme: Der ist gut im Futter. Dabei läuft das alles über die Software des Gesundheitsamts, über unsere EatWell-Watches, jeder muss eine tragen. Jeder von uns ist verbunden mit EatWell-Servern, auf denen die EatWell-Algorithmen laufen, ohne Mängel und ohne Mägen. Das Gesundheitsamt sagt, es ist nur zu unserem Besten.

Es knackt im Schloss, die Tür geht einen Spaltbreit auf.

– Was wollen sie, fragt er, sehr unwirsch für sein Alter. Aber Hunger macht das Herz hart, das kenne ich.

Ich strecke meine Hand aus und halte ihm drei Crispy Bisquits hin.

– Hier, nimm. Die habe ich für dich gesammelt. Du bist jung, du brauchst das Eiweiß-

Aus den Insekten, hätte ich fast gesagt, konnte mir gerade noch auf die Zunge beißen. Was, wenn er gar nicht weiß, woraus die Bisquits gemacht sind?

Die Tür schwingt auf, er lässt seine Deckung fallen. Aus einem runden Gesicht leuchten zwei blaue Augen, sehr viel wacher als die seiner Mutter. Überhaupt sieht er sehr viel gesünder aus, im Großen und Ganzen. Seine Wangen sind fleischig genug für Grübchen, dabei ist er doch schon dreizehn, vielleicht vierzehn. Ich freue mich, dass er die Bisquits annimmt, von einer fast Fremden. Zwei davon stopft er sich sofort in den Mund.

Die Wohnung nebenan ist genauso geschnitten wie meine eigene. Ich kann durch die offene Tür in die Küche blicken. Mein Magen verkrampft sich auf Erbsengröße, ich beginne zu würgen, als ich sie sehe. Ihr Körper hängt von der Decke wie ein guter Schinken. Irgendwo ist ein Fenster offen, ihre Füße drehen sich über dem Boden in der Zugluft.

Der Junge erstarrt, krallt sich an dem übrigen Bisquit fest.

– Bitte sagen sie nichts, winselt er mich an.

Mein Körper gerät ins Wanken, ich muss mich an der Wand festhalten. Was für eine Verschwendung, denke ich.

– Sie konnte nicht mehr, sagt er. Es war immer zu wenig für sie, seit es nur noch die Luken gibt. Mit erstickter Stimme flüstert er: Sie musste etwas unternehmen.

Als ob ich verstehen müsste, dass das der nächste logische Schritt wäre. Automatisch schüttele ich den Kopf, schüttele diesen Donnerstag von mir ab, den zermatschten Bisquit in der Hand des Jungen, das Baumeln in der Küche. Er packt mich am Arm, zieht mich mit in Richtung Küche, kontrolliert das Licht an der Luke. Ich folge seinem Blick. Noch leuchtet es nicht grün.

– Gleich ist es soweit, höre ich sein heiseres Japsen. Vielleicht hat noch niemand etwas bemerkt. Ich brauche höchstens zehn Minuten für beide Tabletts. Danach wähle ich sofort den Notruf, versprochen.
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L.N. Muhr
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Re: Kurzgeschichte "Gründonnerstag"

Ungelesener Beitrag von L.N. Muhr »

Hi,

das ist eine rein formale Kritik, keine an der Person oder der Idee. Der Text ist sprachlich etwas schief. Beispiele:

Kann man sich an einem Bisquit festkrallen? Normalerweise ist es doch so, dass man sich an Dingen festhält, die einem Halt geben, alles andere hält man fest. Also immer das Schwache am Starken, nicht andersherum.

"ich beginne zu würgen, als ich sie sehe. Ihr Körper hängt von der Decke wie ein guter Schinken."

Fängt man beim Anblick eines guten Schinkens an zu würgen? (Ich bin Vegetarier, aber nichtmal mir würde das passieren.)

Beide Beispiele sind nicht grundlegend falsch, sie sind aber geeignet, falsche Assoziationen zu erzeugen, weshalb ich sie als suboptimal einschätzen würde. (Ein Bisquit, an dem ich mich festkralle, müsste groß und massiv sein. Das Bild entsteht in meinem Kopf.)
C.C.Thomas
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Re: Kurzgeschichte "Gründonnerstag"

Ungelesener Beitrag von C.C.Thomas »

Hallo L.N. Muhr,

danke, dass du deine Eindrücke geteilt hast! Kritik, wie du sie vorgebracht hast, finde ich als Verfasserin dieser bzw. zukünftiger Geschichte/n sehr wertvoll!

Viele Grüße
C.C.Thomas
Max Sinister
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Re: Kurzgeschichte "Gründonnerstag"

Ungelesener Beitrag von Max Sinister »

Die Welt bleibt noch etwas unklar. Auf den ersten Blick scheint die Protagonistin eine Mittelschicht-Existenz zu haben, mit etwas mehr smarter Technik und Algen-Essen. Aber warum muss ihr Nachbar dann verhungern?
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