Eine längere Zugfahrt gab mir ausreichend Zeit und Gelegenheit zur Lektüre.
Hier kommen meine Eindrücke:
Das Titelbild stammt diesmal von Dirk Berger.
Und das ist einfach großartig. Ein abgef*ckter Roboter, der seine Morgenzigarette raucht. Das weiße Priesterkollar und das applizierte Kreuz auf dem metallischen Brustkasten - ist das etwa ein robotischer Pastor? Regt jedenfalls zum Schmunzeln an.
Update:
Horst Illmer: Nachrichten & Neuerscheinungen
Wieder einmal hat Horst Illmer viel aufzudatieren. Diesmal geht es gleich mit sechs Nachrufen los, darunter der Grafiker Hubert Schweizer, der Autor Michael Bishop und der Aufbereiter der deutschsprachigen SF, Hans Frey, dessen Tod nicht nur HI besonders getroffen hat.
Von der gewohnt überwältigenden Vielzahl der Veröffentlichungen habe ich mir Ryka Aokis "Das Licht ungewöhnlicher Sterne", Emma Braslavskys "Erdling", Becky Chambers zweiteilige Novelle "Ein Psalm für die wild Schweifenden" und "Ein Gebet für die achtsam Schreitenden", die von Eirk Simon herausgegebene Anthologie "Zeitgestrüpp" sowie Hubert Katzmarz' von Andreas Fieberg neu aufgelegter Text "Ein Meisterwerk der Weltliteratur" zum Kauf vorgemerkt. Mal schauen, wie viele davon tatsächlich auf den SUB wandern.
Interviews:
Bernd Kronsbein: CHRISTIAN ENDRES: Über die Gegenwart in der nahen Zukunft, Cyborg-Wölfe und wehrhafte Prinzessinnen
phantastisch!-Mitarbeiter Christian Endres wird anlässlich seines jüngst erschienen Romans "Wolfszone" selbst zum Interview-Opfer. Und die Rolle füllt er großartig aus. Er erzählt über seine literarischen Wurzeln, seine Schreibprozesse, welche Probleme man mit fünf leicht exaltierten Prinzessinnen hat und wie Klaus Bollhöfener und Horst Illmer in eine seiner Geschichten gerieten.
Was er über "Wolfszone" erzählte, war so interessant, dass auch das Buch auf meiner to-consideer-for-reading-Liste landete. Gern gelesen, das Interview!
Bernd Frenz: CHRIS NOETH: MAYA und DARK ZERO – zwei Albenserien aus deutscher Feder
Überblättert. Comics sind eh nicht so meins, und die abgedruckten Arbeitsproben haben mich auch nicht angesprochen.
Alexander Nym: FELINE LANG: Sängerin, Schauspielerin und Autorin von „Das Puppenhaus“
Multitalent Feline Lang erzählt, wie ihr Roman "Das Puppenhaus" während der Corona-Pandemie entstandt, weshalb der Verlag daraus eine Trilogie machte und wie es zur Zusammenarbeit mit vielen Illustratoren kam.
Hochinteressante Frau, hochinteressantes Buch!
Bücher, Autoren & mehr:
DOMINIK IRTENKAUF: Die Geschichten stehen immer im Mittelpunkt
Ausgehend von der Arbeit des Literaturagenten Hocke hebt Irtenkauf ab zu einer philosophoschen Reflexion über Sinn, Zweck, Gründe und Erscheinungsformen phantastischer Literatur.
Und genau in die RIchtung sollte DI weiterschreiten. Ein ungewöhnlicher Artikel. Vor allem ungewöhnlich gut.
WOLFGANG PIPPKE: Philosophie und Science Fiction
Pippke stellt das dreibändige Werk "Philosophische Probleme in der Science Fiction" von Holger Nielen vor. Es beschäftigt sich mit insgesamt sechs philosophischen Grundproblemen und zeigt dann anhand ausgewählter Beispiele, wie SF-Autoren damit in ihren Werken umgehen.
Hochinteressant! Muss ich lesen!
NICOLE RENSMANN: Das Lektorat und das WIR
Nicole Rensmann befragt verschiedene freiberufliche Lektoren über ihre Arbeit, ihr Honorar sowie positive und negative Erlebnisse. Die Antworten lesen sich aufschlussreich und amüsant.
JAN NIKLAS HOCHFELDT: „Sons of Anarchy“ meets Fantasy
Klassische Ritter-Fantasy. Überblättert.
THILO CORZILIUS: Postapokalypse: Die Welt geht immer wieder unter
TC untersucht die Faszination von Weltuntergangsszenarien, nach denen es, zumindest in der untersuchten Literatur, doch immer noch weitergeht. Darüber kommt er zu teilweise ganz gehaltvollen Einsichten. Die Besprechung einzelner Werke gerät darüber leider etwas zu kurz.
Gab es da nicht vor einigen Jahren schon mal einen Artikel von Christian Hoffmann zum gleichen Thema?
ACHIM SCHNURRER: Captain Joseph und der Rest der Crew
Achim Schnurrer erinnert an ein Foto, das Familie Beuys zeigt, wie sie gerade eine Enterprise-Folge sehen. Da sogar der genaue Zeitpunkt der Aufnahme vermerkt ist, kann man die genaue Folge ermitteln, die aufgrund immanent kolonialistischer Tendenzen Gegenstand heftiger Kritik wurde.
Das Foto hat Beuys schließlich als Innendeckelverzierung für ein "Multiple", eine Ansammlung aus verschiedenen Objekten, benutzt. Und Alex Nym zeigt mit seinen Kommentaren am Schluss, dass man woke Diskussionen auch differenziert und unverbissen führen kann.
Ich freue mich immer, wenn Achim Schnurrer über seine neueste archäologische Ausgrabungsstätte und die antiken SF-Fundstücke berichtet.
AIKI MIRA: James Tiptree Jr. – das Pseudonym als Befreiungstechnologie
Am Beispiel von Sheldon/Tiptree zeigt Aiki Mira einfühlsam und instruktiv die Erlebniswelten genderfluider Personen und die damit verbundenen Probleme und Möglichkeiten. Das Pseudonym, das ursprünglich die wahre Identität einer Person verbergen sollte, kann in diesem Zusammenhang gerade das Gegenteil bewirken - nämlich ein genderfluides Leben im Pseudonym ermöglichen.
Ein kluger und pointierter Text, der von dem Thema bislang unbehelligte Menschen in eine komplexe Materie einführt!
SONJA STÖHR: Phantastisches Lesefutter für jedes Alter – Neue Kinder- und Jugendbücher
Alle angelesen, nirgendwo hängengeblieben.
Rezensionen:
Alle (an-) gelesen, bei folgeden hängengeblieben:
Guy Morpuss: „Five Minds“
Fünf Seelen wohnen, ach, in der Brust eines Leibes. Sie wechseln sich ab in der Kontrolle. Aber es handelt sich um deutlich unterschiedliche Charaktere.
Grundidee nicht neu, aber es hört sich vielversprechend an.
Walter Moers: „Die Insel der Tausend Leuchttürme“
Ja, ich muss Walter Moers und seinen Lindwurm Hildegunst dringend kennenlernen. Aber dann würde ich wohl nicht mit den 1000 Leuchttürmen anfangen.
Anthony Ryan: „Ein Fluss so rot und schwarz“
Insgesamt fünf Männer erscheinen nach und nach auf einem ferngesteuerten Schiff. Sie haben keine Erinnerung an ihre Identität oder ihr früheres Leben, noch wissen sie, zu welchem Zweck sie sich auf dem Schiff aufhalten.
Hört sie an wie ein Angebot, das ein Lesy nicht abschlagen kann.
Ich mag Horst Illmers überzeugende Argumentation, weshalb das besprochene Buch kein Fantasy-Roman sein kann:
Horst Illmer hat geschrieben:Außerdem hat das Buch nur 270 Seiten und keine Fortsetzung!
Feline Lang: „Das Puppenhaus 1 – Eingefangen“
Ein Mann kommt in ein Haus, bleibt dort längere Zeit und wird vom Haus bewirtet. Dann erscheint eine Frau, die anscheinend einmal mit dem Mann verheiratet war, aber nur noch wenig Anziehungskraft verspürt. Aber auch sie bleibt Gast des Hauses. Dann erscheint ein Kind.
Alles wird multiperpektivisch von "unzuverlässigen Erzählern" und recht fragmentiert erzählt. Hört sich nach Pflichtlektüre an!
Comics & Filme:
OLAF BRILL & MICHAEL VOGT: Ein seltsamer Tag – Teil 54
Man kennt das ja, wenn man geradezu in ein Buch reingesaugt wird. Aber was passiert mit den Charakteren, wenn das Buch, in das man reingesaugt wird, von einem selbst handelt?
"Ein seltsamer Tag" hat schon so viel Substanz aufgebaut, dass Brill und Vogt langsam mit Selbstreferenzen spielen können. Und das machen sie auf gewohnt süße Weise.
THORSTEN HANISCH: MORT CINDER – Der Wiedergänger und der Antiquar
Sieht ja wirklisch sehr ansprechend gezeichnet aus, die Graphic Novel in Schwarz-Weiß. Aber das Thema interessiert mich halt kaum.
JAN NIKLAS HOCHFELDT: Der Müll und das Subversive
Wie aus dem Titel leicht ersichtlich, beschäftigt sich der Artikel mit Tierhorror. In diesem Horror-Subgenre begegnet der zivilisierte und evtl. sogar kultivierte Mensch der ungebändigten Natur (mitunter auch der in ihm selbst). Die Tiere können sich entweder an Menschen rächen, die ihnen einen konkreten Schaden zugefügt haben, oder sich ihre Opfer mehr oder weniger zufällig suchen. Bisweilen machen diese Filme auch auf Umweltverschmutzung aufmerksam.
Interesante und plausible Einsichten! Ob man aber Umweltbewusstsein mit Hilfe von Tierhorrorfilmen wecken kann, lasse ich mal dahingestellt.
Storys:
LUCY GUTH: AUDRI
Die weiblich gelesene KI AUDRI, die das Auto ihres Schöpfers steuert, kommt zum Schluss, dass dessen neue Ehefrau Sally dem ungehemmten Wirken ihres Schöpfers im Wege steht und nur durch ihr Erbe nützlich sein kann.
Wenig originelle Idee, ganz brauchbar umgesetzt. Leider weiß man viel zu früh, worauf die Autofahrt hinausläuft. Und dann taucht doch tatsächlich der "Standart"-Fehler auf. Was haben die 10 Lektorys nur die ganze Zeit gemacht?
(Vorsicht! Bewusste Übertreibung!)
MARCO RAUCH: Die letzte Geschichte
Das Ende der Welt ist fest terminiert; den Menschen verbleiben nur noch wenige Stunden. Ein Schriftsteller versucht, wenigstens kurz vor dem Ende eine vernünftige Story abzusondern Da erblickt er ein einsames, kleines Mädchen auf der Straße und nimmt sie mit in seine Wohnung.
Sehr schön das feststehende Ende der Welt, ohne dass explizit gesagt wird, wie, wann genau und aus welchen Gründen der Weltuntergang geschehen wird. Die Brutalität vor dem Ende aller Zeiten wird ganz okay dargestellt - mir fehlen die Sex- und Drogenexzesse. Insgesamt viele gute Ansätze, die mich aber nicht voll erreichen. "Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, so würde ich doch noch heute einem kleinen Mädchen das Maschineschreiben beibringen."
MARKUS K. KORB: Die neongrüne Luftmatratze
Bei einem Urlaub in Kroatien entdeckt ein junges Pärchen eine neongrüne Luftmatratze - genau das Modell, das sich der männliche Ich-Erzähler (IE) schon immer gewünscht hat. Ein geheimnisvoller Anzugträger schenkt dem jungen Mann die Matratze. Da sie aber angeblich seinem Sohn gehört, wollen Lisa und der IE die Matratze zurückgeben. Dabei kommen sie an zunehmend katastrophalere Versionen des Meeresstrandes.
Routiniert geschrieben, die beiden geraten schrittweise in immer sträkere Mystery-Welten, nicht alle Hintergründe werden aufgelöst, aber das Ende ist ein visueller Hammer.
MICROSTORY: JEREMIAS HEPPELER: Captcha
Das Androidenproblem mit einer Auflösung, die bereits H.W. Franke in mehreren Stories seiner Collection "Der grüne Komet" (1961) angewandt hat.
Rubriken:
Editorial
... ist diesmal Klaus Bollhöfeners Nachruf auf Hans Frey. Sehr berührend! Wie viele und wie tiefe Spuren hat Hans Frey nur in den Herzen der SF-Community hinterlassen?
Comic-Strip von Lars Bublitz
Wenn die anderen den phantastischen Schriftsteller nicht loben, muss es sein manipulierter Spiegel machen. Nun ja...
Cartoons von Jan Hoffmann
Eine fortgeschrittene Version ALEXA, die als realistische Partnerin gelobt wird, erweist sich als etwas zu realistisch. Ich habe erst gar nicht erkannt, dass es sich bei der Xantippe um die Alexa auf dem Buchcover handeln soll.
Phantastische Zitate
Wieder einmal hat Rüdiger Schäfer relativ wenig phantastische, dafür um so mehr scharfsinnige und z.T. bissige Zitate gesammelt. Ich liebe ich diese Rubrik.
Mein Liebling aus der aktuellen Ausgabe: "Freunde sind Gottes Entschuldigung für Verwandte."
Auch die Nr. 94 ist eine lesenswerte Ausgabe. Diesmal habe ich zwar den einen oder anderen Beitrag übersprungen, aber die Lesequote lag immer noch bei deutlich über 80%. Insbesondere mochte ich die Interviews mit Christian Endres und Feline Lang, sowie die Beiträge von Irtenkauf, Conzilius, Schnurrer und Aiki Miras einsichtsvoller Essay über Sheldon/Tiptree.
Jetzt beginnt wieder eine drei Monate lange Zeit des Darbens und Wartens...
Gruß
Ralf