40 Jahre Neuromancer von William Gibson – die Cyberpunk-Romantik in der SF

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head_in_the_clouds
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40 Jahre Neuromancer von William Gibson – die Cyberpunk-Romantik in der SF

Ungelesener Beitrag von head_in_the_clouds »

1984 erschein der Roman "Neuromancer" von William Gibson, der eine ganz neue Bewegung in der SF etablierte: Den Cyberpunk.
 
Den Begriff Cyberpunk selber verwendete allerdings der Autor Bruce Bethke in seiner gleichnamigen Story schon 1983 – während Gibson mit der Collection „Burning Chrome“ wierderum ein Jahr zuvor (1982) mit der Titelstory (die er zu Neuromancer weiterentwickelte) die chararkteristischen Merkmale des dann noch nicht so bezeichneten Genres gesetzt hat.
 
Merkmale des Cyberpunk
 
* "Cyber" wie Cybernetics: eine Zukunft, in der sich industrielle und politische Blöcke anstatt national sich global oder in wahlweise Weltraumhabitaten konzentrieren (oft mit einem entgrenzten Kapitalismus einhergehend) und durch quasi- intelligente Informationsnetzwerke gesteuert werden. Deren Netzwerkknoten würden heute als weiterentwickelte AI's bezeichnet , die sich untereinander sowohl in virtuellen aber auch sehr realen Auseinandersetzungen befinden.
 
* Der „Punk“-Teil des Wortes stammt aus der Rock'n'Roll-Terminologie der 1970er Jahre. „Punk“ bedeutet in diesem Zusammenhang jung, straßenerfahren, aggressiv, entfremdet und gegenüber dem Establishment anstößig. Eine oft vielschichtige Desillusionierung (plakativ als „No future“ bezeichnet) – wobei fortschreitend Schichten der Illusion abgetragen werden – ist ein Hauptbestandteil des Punks als Musik- oder literarische Bewegung.
 
* maschinelle Erweiterungen durch Biotechnik des menschlichen Körpers oder halluzinogene Drogen was den Geist anbelangt - letztere verhilft dann auch schon mal durch Emergenz in eine virtuelle Welt des Cyberspace einzutauchen.

* Das Konzept der virtuellen Realität (Cyberspace),  wo die Datennetzwerke der Welt eine Art Maschinenumgebung bilden, in die ein Mensch eintreten kann, indem er sich in ein Cyberspace-Deck (Interface) einklinkt und „sein körperloses Bewusstsein in die kollektive Halluzination projiziert, die die Matrix darstellt“ (Gibson) . Hier wird  das Individuum in eine quasi elektronisch unterstützte Transzendenz  gehoben, die eine emergente, komplett geschlossene Welt darstellt - solange der "Cybernaut" mit dem Interface verbunden ist.
 
Neuromancer - Einflüsse
 
Gibson selbst sagt, dass die drei Haupteinflüsse auf Neuromancer eine Anthologie von Geschichten der Beat-Generation der 1950er und 60er waren (Gibson war Mitte dreissig als er den Roman schrieb und wuchs als Teenager damit auf), Alfred Bester’s scharfsinnige SF (im Nachhinein betrachtet, schuf Bester eine Art „Proto“ – Cyberpunk) sowie das Album der Sängerin Nico, das von Andy Warhol produziert wurde.  Es war Warhol, der 1963 sagte: „Ich möchte eine Maschine sein“, und sich dabei allerdings speziell auf die anonyme, maschinenartige Qualität des Siebdruckverfahrens bezog, auf die Tatsache, dass jeder die Siebdrucke oder im Siebdruckverfahren hergestellten Bilder, die er sich ausdachte, physisch herstellen konnte.
Alle drei brachten sozusagen den Punk in die Cyberwelt.
 
Der Roman Neuromancer als postmoderne SF trägt im Kern die Essenz unseres eigenen Ichs auf der unaufhörlichen Suche nach dem Erhabenen und Transzendenten-  das allerdings im dystopischen der "No future" Empfindung landete. Es ist  der alte Impuls der Romantik (nicht umsonst betiltete Gibson seinen Roman entsprechend) , der in unserer modernen Zeit am besten durch den konzeptionellen Durchbruch der Cyberpunk-Bewegung abgebildet wurde.
 
Der Cyberpunk ab den 1980er war aber auch die letzte grosse Bewegung in der SF.
 
Nicht unerwähnt bleiben sollte Ridley Scotts Blade Runner (1982) , der eine ganze Tradition von Kultfilmen begründete, die später unter dem Etikett „Cyberpunk“ zusammengefasst wurden. Die visuelle Kinoästhetik des Cyberpunks definierte er geradezu. Die Grundlage des Films war Philip K. Dicks berühmter Roman Träumen Androiden von elektrischen Schafen? - auch wenn Scott daraus eine eigene , umfassendere künstlerische Interpretation schuf.
 
Vielleicht macht es mit dem Hintergrund nochmal Spass, den Roman zu lesen .

William Gibson

Burning Chrome (1982) / Chrom brennt [German] (1988) https://www.isfdb.org/cgi-bin/title.cgi?1483510
Neuromancer (1984) / Neuromancer [German] (1987) https://www.isfdb.org/cgi-bin/title.cgi?1349177

Bruce Bethke
Cyberpunk (1983) in: Amazing Science Fiction, November 1983

Weitere Autoren des Cyberpunk:
Bruce Sterling ,Rudy Rucker, Lewis Shiner , John Shirley, Greg Bear , Michael Swanwick
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Re: 40 Jahre Neuromancer von William Gibson – die Cyberpunk-Romantik in der SF

Ungelesener Beitrag von Naut »

Interessant dabei ist, dass sich Punk(-Rock) und Cyberpunk nicht nacheinander, sondern eher gleichzeitig entwickelten: Die ersten Punk-Bands, die klar als solche bezeichnet wurden, gab es ab ca. 1975, die ersten Cyberpunk-Erzählungen, die so gelabelt wurden, ab etwa 1979. Nur vier Jahre dazwischen.
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Re: 40 Jahre Neuromancer von William Gibson – die Cyberpunk-Romantik in der SF

Ungelesener Beitrag von L.N. Muhr »

"The word "cyberpunk" was coined by writer Bruce Bethke, who wrote a story with that title in 1980."

Wobei der Begriff klar an den Punk angelehnt war. Ich seh da wenig Gleichzeitigkeit. Das eine lehnt sich in der Begrifflichkeit klar an das andere an, und in Teilen der Inhalte. (Aber echt nur in Teilen.)
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Re: 40 Jahre Neuromancer von William Gibson – die Cyberpunk-Romantik in der SF

Ungelesener Beitrag von Naut »

L.N. Muhr hat geschrieben: 17. Oktober 2024 20:22 "The word "cyberpunk" was coined by writer Bruce Bethke, who wrote a story with that title in 1980."

Wobei der Begriff klar an den Punk angelehnt war. Ich seh da wenig Gleichzeitigkeit. Das eine lehnt sich in der Begrifflichkeit klar an das andere an, und in Teilen der Inhalte. (Aber echt nur in Teilen.)
Ich rede nicht vom Begriff, sondern von der Entwicklung des Subgenres. Die Schreiber, die später! (nämlich später als 1980) als Cyberpunks gelabelt wurden, haben ja schon vorher publiziert, eben ungefähr in der Zeit, als sich auch Punkrock entwickelte. Insofern war die Entwicklung fast gleichzeitig.

William Gibson: "Fragments of a Hologram Rose", Summer 1977
John Shirley: Transmaniacon (1979)

Okay, danach hat es ein wenig gedauert, bis das richtig abgehoben ist.

"Cyberpunk" als Bezeichnung wurde ja nicht von den Autoren selbst aufgebracht, sondern eher vom Umfeld - Kritiker, Fanzines, später Verlage.

Inhaltlich ist die Verbindung eher lose bis nicht-existent, ist ja auch eine ganz andere Kunstform.

Edit: Mir wird gerade klar, dass Du glaubst, ich wolle aus der Gleichzeitigkeit der Entwicklung irgendeine inhaltliche Parallele herleiten.
Das Gegenteil ist der Fall: Ich finde die Bezeichnung "Cyberpunk" zwar catchy, aber inhaltlich eher beliebig. Oft wird behauptet, dass Cyberpunk z.B. mit Punkrock das emazipative Moment des DIY teile, usw. Das kann man aber für eine Menge andere damalige Musikrichtungen so konstruieren, etwa für Krautrock, die mittleren Kraftwerk (die immerhin ihre Synthesizer selbst gebaut haben - voll Cyberpunk!) oder frühe EBM wie DAF oder Front 242. Man könnte auch behaupten, dass die erzählerische Komplexität eine Entsprechung im Prog Rock der 80er habe oder in der postmodernen Kompositionstheorie. Oder dass die Street Credibility sich aus dem Hip Hop herleite. Alles gleichermaßer (un-)plausibel.
Manche Leute glauben, dass es erst Punk gab und sich dann ein paar Leute dachten: Hey, lasst uns dasselbe mit SF machen! So war es ganz und gar nicht.
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Re: 40 Jahre Neuromancer von William Gibson – die Cyberpunk-Romantik in der SF

Ungelesener Beitrag von Flossensauger »

Kleiner, eventuell unterhaltsamer Einwurf: Der Mär nach wurde "Neuromancer" auf einer mechanischen Schreibmaschine getippt.
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Doop
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Re: 40 Jahre Neuromancer von William Gibson – die Cyberpunk-Romantik in der SF

Ungelesener Beitrag von Doop »

Das ist nicht der Mär nach, das war so und ist durch Gibson selbst überliefert. Welcher Schriftsteller hat denn 1983 auch auf einem Computer getippt? Der erste Mac erscheint doch erst 1984. und wer konnte sich den leisten?
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Naut
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Re: 40 Jahre Neuromancer von William Gibson – die Cyberpunk-Romantik in der SF

Ungelesener Beitrag von Naut »

Na ja, die meisten hatten damals Olivettis oder IBMs elektromechanische Schreibmaschinen. Eine rein mechanische war für einen professionellen Autor schon ungewöhnlicher.
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Jorge.

Re: 40 Jahre Neuromancer von William Gibson – die Cyberpunk-Romantik in der SF

Ungelesener Beitrag von Jorge. »

Doop hat geschrieben: 18. Oktober 2024 07:30 Der erste Mac erscheint doch erst 1984. und wer konnte sich den leisten?

http://unoriginalsins.co.uk/product/nur ... heit-1977/


Schriftsteller bestimmt nicht... :lol:
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Re: 40 Jahre Neuromancer von William Gibson – die Cyberpunk-Romantik in der SF

Ungelesener Beitrag von Naut »

Naut hat geschrieben: 18. Oktober 2024 09:19 Na ja, die meisten hatten damals Olivettis oder IBMs elektromechanische Schreibmaschinen. Eine rein mechanische war für einen professionellen Autor schon ungewöhnlicher.
Wer sich übrigens für diese Zeit interessiert: Damals gab es eine Reihe von Ratgebern zum kreativen Schreiben mit "Word Processors" von Peter A. McWilliams. Der Inhalt ist natürlich mittlerweile veraltet und war schon damals fragwürdig, aber die Dinger waren Bestseller, weil McWilliams einfach unterhaltsam schreiben kann/konnte. Möglicherweise ist das eine oder andere Buch noch in Bibliotheken zu finden.
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