

Bei 1Q84 handelt es sich mit über 1600 Seiten um Murakamis umfangreichsten Roman. Obwohl in drei Bücher aufgeteilt, handelt es sich um eine durchgehende Geschichte. (Im Deutschland ist der Roman in zwei Bänden erschienen, Buch 1& 2 in einem, Buch 3 in einem weiteren Band.)
Die Bücher 1&2 werden abwechseln in zwei Strängen erzählt, einmal aus Sicht der 29-jährigen Aomame, die als Trainerin in einem exquisiten Fitnessstudio arbeitet und ihr Singleleben hin und wieder mit Onenight-Stands auflockert. Der andere Strang wird aus Sicht des Mathematiklehrers und angehenden Schriftstellers Tengo erzählt, der von seinem Lektor und Förderer dazu überredet wird, das Manuskript einer 17-jährigen, das von der Story her hervorragend von Sprache und Stil aber eher erbärmlich ist, quasi neu zu schreiben, damit es bei einem Literaturwettbewerb große Chancen hat.
In Buch 3 wird als dritter Erzählstrang die Perspektive des Privatdetektivs Ushikawa hinzugenommen. Ushikawa war in den ersten beiden Büchern lediglich als äußerst unsympathische Nebenfigur in Erscheinung getreten.
Direkt zu Beginn der Erzählung folgen wir Aomame, die auf dem Weg zu einem Auftragsmord ist. Ihr fällt auf, dass die Polizisten andere Uniformen und Waffen tragen. Als sie dem nachgeht, merkt sie, dass sie auch viele andere Ereignisse des Weltgeschehens nicht mitbekommen hat, wie den gewaltsamen Aufstand einer Sekte oder den Plan einer amerikanisch-sowjetischen Raumstation. Sie kommt zum Schluss, dass sie nicht mehr im Jahr 1984 ist, sondern in einer leicht anderen Welt, die sie 1Q84 nennt. Neun, japanisch kyu, klingt genauso wie das englische Q. Handelt es sich um einen Parallelweltroman? Laut Murakami eher nicht:
»Ist sie so etwas wie eine Parallelwelt?«
Der Mann lachte, und seine Schultern bebten leicht. »Du hast offenbar zu viele Science-Fiction-Romane gelesen. Nein, es handelt sich hier keineswegs um eine Parallelwelt oder etwas Ähnliches.«
Obwohl die beiden Hauptfiguren zunächst sehr verschieden wirken, erkennt man im Verlauf der Handlung viele Gemeinsamkeiten: Beide waren nie richtig verliebt und führen ein eher zurückgezogenes, ja einsames Leben. Auch in der Kindheit gab es auffällige Parallelen.
Im Verlauf der ersten beiden Bücher verwebt Murakami die beiden Handlungsstränge mehr und mehr. Eine Sekte spielt in beiden Strängen eine zentrale Rolle, dann tauchen Dinge aus Tengos umgeschriebenen Roman in Aomames Wirklichkeit auf. Ursache für die seltsamen Geschehnisse scheinen die sogenannten "Little People" zu sein, die Ursache der Sekte sind und auf Menschen mit besonderen Fähigkeiten angewiesen sind, um mit den Sektenmitgliedern zu kommunizieren.
Neben den Hauptfiguren gibt es in dem Roman auch eine Fülle überaus interessanter Nebenfiguren, wie beispielsweise den lakonischen Leibwächter Tamaru, ein absoluter Profi, der jede Lüge erkennt und alle Informationen bekommt.
Beachtlich auch wie die unsympathische, ja fast schon lächerliche Nebenfigur Ushikawa im dritten Teil plötzlich eine ungeahnte Tiefe entwickelt, sodass man gegen Ende schon fast Mitleid mit ihm hat und ihn als gebrochenen Mann, der uns Überleben kämpft, wahrnimmt und nicht mehr als nervenden Bösewicht.
Murakami reißt in 1Q84 diverse Themen an: Neben der phantastischen Handlung um die "andere Welt" geht es um häusliche Gewalt in Japan, Literatur und den Literaturbetrieb, eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, den Tod und eine gute Portion Sex.
Eine "andere Welt" spielt in vielen Romanen eine zentrale Rolle und in allen Romanen deutet Murakami diese Welten nur an und sie bleiben am Ende der Romane geheimnisvoll. 1Q84 bildet hier keine Ausnahme. Wer am Ende Erklärungen braucht, wer sind den nun die "Little People", was ist deren Ziel, warum sind Aomame und Tengo in die "Parallelwelt" geraten, sollte den Roman besser gar nicht erst anfangen.
Murakami bedient sich wie so oft einer nüchternen Sprache und beschreibt Dinge aus dem alltäglichen Leben der Protagonisten genauso sachlich, schlicht wie die Technik des Tötens mit einer langen Nadel, die dem Opfer durch den Nacken ins Gehirn gestochen wird. Um es mit seinen eigenen Worten zu sagen: »...es ist nicht nötig, komplizierte Sätze aneinanderzureihen. Und es bedarf erst recht keiner blumigen Ausdrucksweise, um andere Menschen zu beeindrucken.« Stimmt, aber es bedarf schon eines Murakami, um mit einfachen Sätzen zu beeindrucken.
Ich habe den Roman nicht gelesen, sondern das ungekürzte Hörbuch gehört. Der Sprecher David Nathan macht hier einen ausgezeichneten Job. Sein eher sachlicher Lesestil passt ganz hervorragend zu Murakami.