Ich wecke das Thema wieder mal auf, um eine zusätzliche Quelle in die Diskussion zu bringen, die ich vor kurzem wiederentdeckt habe. Einige kennen das Buch vielleicht, es war Anfang der 80er in den unteren Regionen der Bestsellerlisten zu finden: das Protokoll eines Gespräches zwischen Erhard Eppler, Michael Ende und Hanne Tächl unter dem Titel "
". Gruseligerweise wirkt vieles daraus heute nochmal deutlich relevanter als vor 35 Jahren.
zur Neuauflage des Buches einen längeren Abschnitt von Michael Ende, versehen mit einigen Fettmarkierungen von mir:
Die Tagung, von der ich jetzt spreche, lief unter dem Thema »Die Rationalisierungsfalle«. Zu dieser Tagung waren etwa zweihundert Top-Manager aus ganz Europa eingeladen, auch Gewerkschaftsleute und einige Leute vom Club of Rome. Es ging bei der ganzen Sache um die Mikroprozessoren, die damals gerade aufkamen und die praktisch als die dritte industrielle Revolution gewertet wurden. Mit diesen Mikroprozessoren ist es ja möglich geworden, vollautomatische Fabriken zu bauen, in denen keine Menschen mehr arbeiten, sondern nur noch
Maschinen.
Ich war einigermaßen erstaunt, dass die Veranstalter gerade mich einluden, an dieser Tagung teilzunehmen. Wie sie mir schrieben, brauchten sie auf dieser Tagung jemand, der Gretchenfragen stellt, also als Nichtfachmann ganz unbefangen und sozusagen naiv den Problemen gegenübersteht. Sie hätten aus meiner Momo den Eindruck gewonnen, dass ich dafür genau der Richtige sei. Außerdem enthielt der Brief noch die Bitte, den dort versammelten Managern aus der Momo vorzulesen. Da dachte ich mir, das ist mal interessant, das mache ich und bin hingefahren.
Zunächst wurde den ganzen Tag schwer über alle möglichen Fragen des Wirtschaftswachstums diskutiert. Man sprach von der unabänderlichen Notwendigkeit von soundso viel Prozent Wachstum pro Jahr, wenn Katastrophen vermieden werden sollten. Die Leute vom Club of Rome versuchten dagegen, den Managern klarzumachen, dass es überhaupt kein Wachstum mehr geben dürfe, wenn noch schlimmere Katastrophen vermieden werden sollten. Dann kamen die Gewerkschaftler und sagten: Um Himmels willen, wenn die Mikroprozessoren jetzt alle Arbeit allein machen, was wird dann aus den Arbeitern? Das gibt eine Katastrophe! Darauf sagte ein besonders Schlauer, das mit den Arbeitern sei doch ganz einfach, alle die, die durch Mikroprozessoren ersetzt würden, könnten in Zukunft eben Mikroprozessoren bauen – und so ging alles rund im Kreis herum. Es war eine heftige und ziemlich groteske Diskussion.
Nach dem Abendessen sollte der gemütliche Teil kommen, und da war ich endlich an der Reihe. Ich stieg also auf das Podest und las erst mal den Managern zur allgemeinen Verblüffung ein Kapitel aus der Momo vor. Die Stelle mit Herrn Fusi, dem Friseur. Danach herrschte Ratlosigkeit im Saal. Man wusste nicht so recht, was das sollte, dass ihnen da einer plötzlich ein Märchen vorliest. Also fingen die Leute an, über den literarischen Wert oder Unwert der Sache zu diskutieren. Ich sagte: "Meine Herren, ich glaube nicht, dass man mich aus diesem Grund zu Ihrer Tagung eingeladen hat. Die vorgelesene Stelle aus meinem Märchenroman sollte nur eine Anregung sein. Ich möchte Ihnen nämlich einen Vorschlag machen: Mir fällt auf, dass in unserem ganzen Jahrhundert kaum eine positive Utopie mehr geschrieben worden ist. Die letzten zumindest positiv gemeinten Utopien stammen aus dem vorigen Jahrhundert. Denken Sie etwa an Jules Verne, der noch glaubte, dass der technische Fortschritt den Menschen tatsächlich glücklich und frei machen könnte, oder an Karl Marx, der dasselbe von der Perfektion des sozialistischen Staates erhoffte. Beide Utopien haben sich inzwischen selbst ad absurdum geführt. Sieht man sich aber die Utopien an, die in unserem Jahrhundert geschrieben worden sind, angefangen von der Zeitmaschine von Wells über Brave New World von Huxley bis zu 1984 von Orwell, so finden wir nur noch Albträume. Der Mensch unseres Jahrhunderts hat Angst vor seiner eigenen Zukunft. Er fühlt sich dem, was er selbst geschaffen hat, offenbar hilflos ausgeliefert. Es wird nur noch in Sachzwängen gedacht. Und Zwänge machen Angst. Das Gefühl der Hilflosigkeit ist so groß, dass wir nicht einmal mehr wagen, uns zu überlegen, was wir uns eigentlich wünschen.
Und deshalb möchte ich Ihnen, die Sie ja nun den ganzen Tag über Zukunftsfragen diskutiert haben, folgenden Vorschlag machen: Setzen wir
uns doch einmal alle gemeinsam auf einen großen fliegenden Teppich und fliegen hundert Jahre in die Zukunft. Und jetzt soll jeder sagen, wie er sich denn nun wünscht, dass die Welt dann aussehen soll. Mir scheint nämlich, solange immer nur innerhalb der Sachzwänge argumentiert wird, wie heute den ganzen Tag, dann stellt man überhaupt nicht mehr die Frage, was wir überhaupt für wünschenswert halten. Ich habe sie
jedenfalls kein einziges Mal gehört. Aber schließlich hängt die Zukunft der Welt doch von uns allen ab. Wir schaffen sie doch selbst. Wenn
wir alle gemeinsam etwas Bestimmtes wollen, dann finden sich auch Mittel und Wege, es zu verwirklichen. Wir müssen nur wissen, was!
Dazu schlage ich Ihnen dieses Spiel vor. Dabei soll nur ein einziger Satz verboten sein, sozusagen als Spielregel, und der heißt: Das geht nicht! Sonst darf jeder einfach sagen, was ihm einfällt: Möchte er eine Gesellschaft mit Industrie, eine Gesellschaft ohne Industrie, wollen wir mit der Technik leben, wollen wir am liebsten die Technik ganz abschaffen, jeder soll sagen, wie er sich die zukünftige Welt wünscht."
Fünf Minuten Schweigen – peinliches Schweigen – ich hab’ es auch mit Absicht nicht unterbrochen, dieses Schweigen. Schließlich stand einer auf und sagte: "Was soll der Quatsch? Das hat doch überhaupt keinen Sinn, wir müssen auf dem Boden der Tatsachen bleiben, und die Tatsachen sind eben die, dass wir, wenn wir nicht mindestens drei Prozent Wachstum im Jahr haben, nicht mehr konkurrenzfähig sind und wirtschaftlich zugrunde gehen". Ich sagte "das haben Sie jetzt den ganzen Tag über diskutiert. Sie werden morgen und übermorgen weiter darüber diskutieren, jetzt wollen wir das einen Augenblick vergessen und dieses Zukunftsspiel spielen."
Aber das war nicht zu machen, im Gegenteil! Die Situation wurde so prekär, so mulmig, dass die Veranstalter den Versuch nach einer halben Stunde von sich aus abbrechen mussten, weil die Leute anfingen, mich zu beschimpfen und aggressiv zu werden.
Dieses Erlebnis hat mir viel zu denken gegeben. Ich glaube, es sind nicht nur diese Wirtschaftsleute, die heutzutage in einem ganz bestimmten Kreislaufdenken regelrecht gefangen sind, und dieser Kreislauf wird angetrieben durch Vorstellungen der Macht und der Angst, das heißt entweder überwältigen uns die anderen, dann sind wir verloren, oder wir überwältigen die anderen, dann gewinnen wir einen kleinen Vorsprung in diesem Wettlauf. Ich fand es grausig, dass diese Leute überhaupt nicht mehr außerhalb dieses Höllenkreislaufs denken konnten. Aber ich habe später bei öffentlichen Lesungen und Diskussionen bemerkt, dass eine ganz ähnliche Bewusstseinshaltung schon bei vielen jungen Leuten besteht. Viele haben das Gefühl, vor einer Art schwarzer Wand zu stehen. Sie sagen: Ja, ja gut, ich kann diesen oder jenen Beruf ergreifen, ich werde irgendwie schon durchs Leben kommen, aber wozu, was soll das Ganze? Da drückt es sich als totale Entmutigung aus, als Verzweiflung, als das Gefühl, man stünde vor einer unüberwindlichen schwarzen Mauer. Da steckt das Problem unserer Konsumgesellschaft: Wir sind zum Konsum verdammt, weil sonst nichts da ist. Äußerlich haben wir alles, geistig sind wir arme Teufel.
Wir können keine Zukunft sehen, wir können keine Utopie finden. Mir scheint es lebensnotwendig, überlebensnotwendig, dass man sich – sei
es im politischen, sei es im kulturellen, sei es auf wirtschaftlichem Gebiet – ein positives Bild von der Welt machen kann, in der man leben
möchte.
Habt Ihr einmal in den letzten 30 Jahren eine Utopie gelesen, die ein solches Bild entstehen ließ; das einer machbaren, überlebensfähigen Welt / Gesellschaft für uns -- ohne Apokalypse zuvor?