Wir dürfen aber gerne die deutsche (oder englische) Übersetzung lesen.
Mein Take: Stanisław Lem - "Die Stimme des Herrn"
(Erstausgabe 1968 unter dem Titel: Głos Pana
gelesene Ausgabe: Stanisław Lem: Die Stimme des Herrn
Aus dem Polnischen übersetzt von Roswitha Buschmann.
Verlag Volk und Welt, Berlin (DDR), 1981)

Wissenschaftlern ist es gelungen, in der kosmischen Neutrinostrahlung ein außerirdisches Signal zu entdecken und zu extrahieren. Aber was bedeutet es? Und was bewirkt es?
Um Antworten auf diese und andere Fragen zu finden, wird das Geheimproject Master’s Voice ins Leben gerufen. Wir erleben das wechselhafte Schicksal dieses Forschungsprojekts aus der Perspektive des Mathematikers Peter Hogarth mit. Er soll als Außenseiter einen frischen Blick auf erstarrte Fachdogmen werfen.
Irgendwann entdecken die Forscher, dass die Strahlung lebensfördernde Eigenschaften besitzt. Zwei Gruppen entschlüsseln unabhängig voneinander einen Teilcode des umfangreichen Signals und nutzen es, um ein schleimiges Gewebe zu entwickeln, das von der einen Gruppe „Froschlaich“, von der anderen „Herr der Fliegen“ genannt wird. Diese Gebilde absorbieren die Energie der Neutrinos mittels Kernreaktionen. Schließlich gelingt es, auf der Basis dieses Effekts Waffen zu entwickeln.
Dennoch bleiben die Wissenschaftler komplett ratlos, was Ursache, Herkunft, Sinn und Zweck des Neutrino-Briefes angeht. Im Prinzip besteht der Roman aus der Aneinanderreihung abstrusester Theorien, die sich alle gut anhören, meist nicht komplett unfundiert sind, aber oftmals auf metaphorischen Assoziationen beruhen und sich nicht selten gegenseitig ausschließen. Eine Klärung gelingt selbst der versammelten Weltelite der Experten nicht.
Lem verhandelt wieder einmal sein Lieblingsthema: Wie reagieren wir, wenn wir mit dem absolut Fremden, dem absolut Anderen konfrontiert werden? Genau darum geht es auch in seinen Meisterwerken „Solaris“, „Eden“ und „Der Unbesiegbare“. In „Die Stimme des Herrn“ allerdings nimmt er die Wissenschaft und den Wissenschaftsbetrieb aufs Korn. Und das macht er mit satirischem Scharfblick, wobei sich der Protagonist ungewollt komisch verhält. Hogarth sucht ernsthaft nach brauchbaren Erklärungsansätzen, scheitert dabei aber genauso wie alle anderen Projektteilnehmer. Es gibt zwar Seitenhiebe gegen die Philosophie und die Theologie, aber diese Aspekte haben lange nicht den Stellenwert, den sie z.B. in den „Sterntagebüchern“ besitzen. Ganz nebenbei entlarvt er auch typische Strategien von Wissenschaftlern, um ihre Sponsoren zufrieden zu stellen.
Was mich wundert: Obwohl der Roman in einem sozialistischen Land mitten im Kalten Krieg entstand, wird geradezu selbstverständlich die Führungsrolle der USA und Westeuropas auf dem Gebiet der Wissenschaft vorausgesetzt. Nahezu alle handelnden Personen stammen aus diesen Ländern einschließlich des Ich-Erzählers Peter Hogarth. Klassenkampf, soziale Ungleichheit und ideologische Fragen bleiben komplett außen vor. Das Wort „Gott“ erscheint mehrfach, die Worte „Kommunismus“ und „Sozialismus“ fehlen komplett. Ähnliche Tendenzen habe ich auch in einigen SF-Romanen aus der DDR beobachtet. Wie ging das nur durch die Zensur?
Unterm Strich hat mich auch der zweite Lem der Lesechallenge begeistert. Als Wissenschaftler konnte ich an vielen Stellen schmunzeln und wissend mit dem Kopf nicken. Ja, genau so ticken wir und genau so handeln wir! Am Ende hat das Projekt zwar einigen Fortschritt gemacht. Aber die grundlegenden Fragen bleiben weiterhin unbeantwortet. Vielleicht muss das ja so ein.
Zwei Zitate zum Abschluss:
"Er hatte versucht, […] die Früchte der literarischen Fantasie auszunutzen – dieses besonders in den Staaten beliebten Genres, das durch eine hartnäckige Verkennung der Tatsachen Science Fiction genannt wird. Er hatte derlei Bücher vorher nie gelesen. Nun war er böse, ja sogar empört, weil sie ihn durch ihre Eintönigkeit enttäuscht hatten. »Außer Phantasie gibt es darin alles«, sagt er. Es handelte sich freilich um ein Mißverständnis. Die Autoren der pseudowissenschaftlichen Märchen bieten dem Publikum das, was er selber haben will: Banalitäten, Binsenweisheiten, Klischees, entsprechend verpackt und bizarr aufgemacht, so daß sich der Verbraucher einem harmlosen Stauen hingeben und zugleich unbehelligt bei seiner Lebensphilosophie bleiben kann. Wenn es in der Kultur einen Fortschritt gibt, dann vor allem einen begrifflichen, und den tastet die Literatur, besonders die phantastische, nicht an." (Seite 143 unten bis Seite 144 oben)
"Wer die Phantasie als Schwert benutzt, wird durch das Schwert umkommen. Und dabei geht es doch darum, daß die Phantasie zum Fenster wird, das sich auftut in die Welt." (Seite 257 unten)
Gefensterter Gruß
Ralf
[ ] original deutschsprachig, 2024 erschienen|
[X] Erstveröffentlichung vor 1963| Stanisław Lem - Sterntagebücher (polnische EA erschienen 1957)
[ ] Sieger Nebula Award|
[X] Nachname, in dem ein "l" vorkommt| Stephen R. DonaLdson – Verbotenes Wissen (Amnion 2)
[X] Handlung spielt auf Raumschiff| Stephen R. Donaldson - Die wahre Geschichte (Amnion 1)
[ ]"und" oder "oder" im Titel|
[X ] Original weder deutsch noch englisch| Stanisław Lem – Die Stimme des Herrn (polnische EA erschienen 1968 unter dem Titel "Glos Pana")