Es gibt Romane, über die man nicht sagen kann, sie litten unter Handlungsarmut - dies, ohne daß eigentlich zu wenig passiert. Obwohl sich alles Mögliche ereignet, kommt nicht der Eindruck auf, daß die Handlung fortschreitet, denn eine Handlung im Sinne einer stringenten, auf etwas hinführenden Handlung ist (irgendwie) nicht ersichtlich.
Der Leser eines solchen Romans fragt sich irgendwann: Was soll das, und: worum geht es hier?
In Varleys "Stahl-Paradies" bekommen wir den ersten Hinweis auf die dem Buch zugrundeliegende Problemstellung nach 160 Seiten, am Ende des ersten von drei Teilen.
Zum Hintergrund: Ort der Ereignisse ist der Erdmond, 200 Jahre in der Zukunft. 100 Jahre zuvor hat die Erde eine Invasion Außerirdischer erleiden müssen. Die Menschheit konnte den Fremden nur aus dem Wege gehen und die Erde verlassen, übrigens innerhalb von drei Tagen. Eines Befehls des Gegners hatte es dazu nicht bedurft, der war einfach haushoch überlegen gewesen, kam, sah und machte sich breit, ohne die einheimische Spezies weiter zu beachten. Die Frage, ob die Menschheit überhaupt wahrgenommen wurde, ist eine durchaus gestellte: man weiß es nicht. Was man indes schmerzhaft zu wissen bekam, war, daß die Anwesenheit der Fremden auf der Erde eine gleichzeitige Anwesenheit der Menschen ausschloß. Seitdem lebt die Menschheit auf 8 Monden des Sonnensystems, seltsamerweise nicht weiter behelligt von den auf der Erde lebenden Invasoren (über die man schlicht gar nichts weiß und die im Roman weder vorkommen noch eine Rolle spielen).
Die Humantechnik hat vieles perfektioniert in den vergangenen 200 Jahren. Die Menschen werden bis zu 300 Jahre alt, der Friseur an der Ecke nimmt gerne die nächste Geschlechtsumwandlung vor (oder sind wir erst 18 und 's ist die erste?). Weil auch alles andere perfekt ist, gibt's nicht viel zu tun auf den Monden. Die Zentralcomputer managen einfach alles, zum Wohle und zur Bequemlichkeit des Einzelnen und des Ganzen. So ist der Produktionsfaktor Arbeit im Grunde abgeschafft, und die Menschen könnten wie degenerierte Arkoniden vor ihren Flimmerschirmen liegen und einfach nichts tun. Tun sie aber nicht, wär ja auch arg langweilig bei 300 zu erwartenden Lebensjahren. Also sucht sich jeder etwas, das ihm Spaß macht und vielleicht auch nützt. Das Ergebnis ist eine Gesellschaft, in der jede Arbeit eine selbstgewählte Arbeitsbeschaffungsmaßnahme ist (was Außenstehende jedoch so nicht wahrnehmen würden). Man merkt gar nicht, daß man eigentlich ein bißchen satt geworden ist.
In dieser allgemeinen Sorglosigkeit registriert der lunare Zentralcomputer, kurz "CC" genannt, ein unerklärliches Ansteigen der Selbstmordrate in der Bevölkerung. Gründe dafür: Fehlanzeige. Für den CC ist das sehr wohl ein persönliches Problem, denn durch die zahllosen mikroskopischen Nanobots, die in den Körpern der Menschen herumflirren und für Gesundung und langes Leben sorgen, ist er mit den Menschen direkt verbunden und empfängt ihre gestiegene Selbstmordneigung als Rückkopplung. Was nichts anderes heißt, als: Der CC ist selbst suizidgefährdet. "Oha!" merkt der Leser an dieser Stelle unwillkürlich auf und denkt: "Das ist nicht schlecht!"
Soviel zur Problemstellung nach 160 (von 734) Seiten, aufgezäumt am Beispiel eines ich-erzählenden Protagonisten, Hildy, der als Klatschreporter arbeitet und sich jüngst mehrfach erfolglos vom Diesseits ins Jenseits zu befördern versuchte.
Was geschieht auf den 300 Seiten des zweiten Teils? Alles mögliche: Hildy besucht seine Mutter, wechselt sein Geschlecht, landet einige Seite-1-Stories (in die er irgendwie immer selbst involviert ist), sinniert über seine, bzw. ihre Selbstmordversuche (über deren Gründe sie selbst rätselt), schmeißt den Job, erfährt unerwartete Sympathiebekundungen, versucht sich ein weiteres Mal umzubringen und diskutiert schließlich, wie schon am Schluß des ersten Teils, mit dem CC über das Selbstmordproblem der Mondbewohner. Auch dieses Gespräch mündet wieder in ein "Oha!"- Erlebnis, es fällt diesmal jedoch etwas kleiner aus als beim ersten Mal.
Dritter und letzter Teil. Hildy sinniert weiter, läßt sich von einem Sextherapeuten schwängern, verliebt sich in einen Ex-Kollegen, nimmt an der Zweihundertjahrfeier der Invasion teil. Dann wird es - doch noch - spannend: Hildy gerät einer Outsider-Gruppierung auf die Spur, die im Verborgenen ein Leben jenseits allen CC-Einflusses führt.
Den Schluß will ich nicht verraten, nur soviel: Am Ende ist das Leben aller ein bißchen "einfacher". Es gibt keinen Knalleffekt in Sinne einer überraschenden Lösung. Es kommt im Grunde, wie es kommen muß, und die einzige Überraschung liegt darin, daß es keine wirkliche Überraschung gibt. Obgleich die Handlung auf den letzten 200 Seiten (endlich) anzieht und 90 Seiten lang sogar richtige Spannung einkehrt, fließt alles in eine seltsam unaufgeregte Lösung des Problems ein.
Hat mich das enttäuscht, nach 734 Seiten?
Ein bißchen, ja, im ersten Moment. Dann aber: eigentlich nein.
Warum nicht? Ich versuche es zu erklären.
Wollte man boshaft sein, müßte man urteilen: Der Roman ist hoffnungslos geschwätzig. Etwas charmanter ausgedrückt würde ich sagen: Ein Plauderroman. Varley läßt seinen Protagonisten plaudern, daß sich die Balken biegen, und es nimmt nie ein Ende. Kaum eine Seite, in der Hildy nicht in der rauhen, aber herzlichen Art des amerikanischen Westens flucht ("Verdammt", "zum Teufel"), kaum zwei Seiten, in der er sich nicht über irgendeine Einzelheit mehr, als es nötig wäre, ausläßt. Ich vermeide zu sagen, der Roman habe zuweilen monologischen Charakter, das klingt viel zu streng. Denn wenn "Stahl-Paradies" eines nicht ist, dann streng. Mir fällt nur ein Autor ein, der in ähnlich lockerer Weise zu plaudern versteht: Robert A. Heinlein. Das ist indes kein Zufall. Soviel ich weiß, bekennt sich Varley unverblümt zu Heinlein als Vorbild, und er bemüht sich in keiner Weise, das zu verbergen. Ganz im Gegenteil: ein unvollendetes Generationenraumschiff, das auf der Mondoberfläche langsam vor sich hinrostet (wenn es rosten könnte), trägt Heinleins Namen. Tatsächlich ist der Roman so flüssig geschrieben, daß ich mitunter den Eindruck hatte, mein Lesetempo komme mit dem Fluß des Textes nicht mehr nach. In diesem Zusammenhang dürfte die Übersetzung von Uwe Anton lobend zu erwähnen sein (auch ohne englischen Vergleich). Spätestens im Laufe des zweiten Teils merkt der Leser, daß er sich auf Hildys Plaudereien einfach einlassen muß, will er sich nicht am schleppenden Handlungsfortschritt reiben. Hildy kompensiert diesen Mangel durch den enormen Unterhaltungswert seines Wortschwalls. Und durch seinen Witz: "Stahl-Paradies" ist ein oft witziges, an einigen Stellen sogar brüllend witziges Buch.
Unter dem Strich steht ein Lesevergnügen ohne größeren Tiefgang. Ein Spaß für denjenigen, der diese Art von Plauderei schätzt, und 734 Seiten, an die der (geneigte) Leser mit einem Schmunzeln zurückdenkt.
John Varley "Stahl-Paradies"
John Varley "Stahl-Paradies"
Zuletzt geändert von cran am 22. September 2005 21:15, insgesamt 1-mal geändert.
Ein gutes Buch, das dem Zyklus der "Acht Welten"(Eight Worlds) angehört.
Weitere dazugehörige Titel sind: Der Roman "Der heiße Draht nach Ophiuchi"(The Ophiuchi Hotline); Heyne SF 3852; darin erfährt man mehr über die Invasion und wie die Menschheit in den Besitz der Technik gelangte, die ihr das Überleben im Exil ermöglicht(durch eine geheimnisvolle Radiobotschaft aus dem Sternbild Schlangenträger, über deren Urheber und Absichten man sich keine Gedanken macht - bis es zu spät ist...).
Weiterhin Stories aus den Sammlungen "The Persistence of Vision"(dtsch. Voraussichten", "Mehr Voraussichten", "Noch mehr Voraussichten", Goldmann SF 23381 - 23383) und "Blue Champagne" sowie "Picnic on Nearside"(von denen einige ins Deutsche übersetzt wurden wie z.b. "Im Sumpf", "Optionen", "Abgespeichert", "Leb wohl,Robinson Crusoe" - alle Heyne SF).
Weitere dazugehörige Titel sind: Der Roman "Der heiße Draht nach Ophiuchi"(The Ophiuchi Hotline); Heyne SF 3852; darin erfährt man mehr über die Invasion und wie die Menschheit in den Besitz der Technik gelangte, die ihr das Überleben im Exil ermöglicht(durch eine geheimnisvolle Radiobotschaft aus dem Sternbild Schlangenträger, über deren Urheber und Absichten man sich keine Gedanken macht - bis es zu spät ist...).
Weiterhin Stories aus den Sammlungen "The Persistence of Vision"(dtsch. Voraussichten", "Mehr Voraussichten", "Noch mehr Voraussichten", Goldmann SF 23381 - 23383) und "Blue Champagne" sowie "Picnic on Nearside"(von denen einige ins Deutsche übersetzt wurden wie z.b. "Im Sumpf", "Optionen", "Abgespeichert", "Leb wohl,Robinson Crusoe" - alle Heyne SF).
- Shock Wave Rider
- Statistiker des Forums!
- Beiträge: 11321
- Registriert: 20. Juli 2003 21:28
- Bundesland: Bayern
- Land: Deutschland
- Liest zur Zeit: C. Endres "Wolfszone"
S. Freyberg (Hg.) "Andromeda Nachrichten 289" - Wohnort: München
Re: John Varley "Stahl-Paradies"
Mein "first contact" mit Varley war die Goldmann-Collection "Voraussichten". Davon war ich so begeistert, dass ich mir kurz hintereinander die Folgebände "Mehr Voraussichten" und "Noch mehr Voraussichten" reinzog sowie die hervorragenden Romane "Der heiße Draht nach Ophiuchi" und "Millenium. Eine Jahrtausendliebe". Danach freute ich mich auf die "Gäa"-Trilogie, deren ersten Teil "Gäa" ich auch noch super fand. Der zweite Teil "Titan" war noch okay, "Dämon" fand ich hingegen langgezogen und unnötig blutig.
Mit entsprechenden Vorbehalten nahm ich "Stahl-Paradies" zur Hand. Und war restlos begeistert. Das war wieder Varley at his best. Er hatte zu seinen Wurzeln zurückgefunden, konnte sich aber literarisch noch steigern. Die Kreativpause hatte ihm gut getan.
Gruß
Ralf
Mit entsprechenden Vorbehalten nahm ich "Stahl-Paradies" zur Hand. Und war restlos begeistert. Das war wieder Varley at his best. Er hatte zu seinen Wurzeln zurückgefunden, konnte sich aber literarisch noch steigern. Die Kreativpause hatte ihm gut getan.
Gruß
Ralf
Shock Wave Riders Kritiken aus München
möchten viele Autor'n übertünchen.
Denn er tut sich verbitten
Aliens, UFOs und Titten.
Einen Kerl wie den sollte man lünchen!
möchten viele Autor'n übertünchen.
Denn er tut sich verbitten
Aliens, UFOs und Titten.
Einen Kerl wie den sollte man lünchen!
Re: John Varley "Stahl-Paradies"
Ich habe mir jetzt den John Varley Reader gekauft und lese seine Kurzgeschichten, dir mir ganz gut gefallen.