Mein persönliches Highlight vom
Filmfest München:
Mr. Nobody (OF)
Belgien, Deutschland, Frankreich, Kanada 2009
Regie: Jaco van Dormael
Rio 1, 30.06.2010 18:30
Was, wenn man in der Lage wäre, sein Leben mehrmals zu leben und bei Entscheidungen einfach mal alle Möglichkeiten auszuleben? Nemo Nobody scheint über diese Gabe zu verfügen. Bei einem Interview im Alter von 117 Jahren berichtet er dem staunenden Reporter über seine mindestens drei Leben mit drei Frauen: seiner großen Liebe Anna, der faszinierenden, aber labilen Elise und der Lückenbüßerin Jeanne. Mit Elise und Jeanne hat er Kinder (oder auch nicht), Anna trifft er nach unfreiwilliger Trennung als 15jährige später wieder (oder auch nicht).
Es ist kaum möglich, die Story des Films zu erzählen. Denn es gibt keine – oder ganz viele, die parallel laufen, sich miteinander verknäueln, auseinanderplatzen etc. In „Mr. Nobody“ geht es um nichts weniger als die Befreiung der Zeit von ihrer linearen Zwangsjacke. Das geschieht durch Phantasie, durch inneres Leben, nicht zuletzt durch Kunst.
So wie im Film öfter eine Vase zerbricht oder eine Flüssigkeit ausläuft, so zerbricht auch der Zeitstrahl in einzelne Bruchstücke oder zerläuft in andere Zeitstränge mit hinein. Nemo Nobody hat nicht nur ein Leben gelebt, sondern viele ausgekostet mit allen Varianten. In einigen ist er bereits gestorben.
Welch ein Kunstwerk! Hier bezieht sich alles auf jedes, kleine Andeutungen, die man in einer der ersten Szenen vielleicht übersehen hat, erlangen plötzlich Wichtigkeit, um zwei Kameraeinstellungen später wieder negiert zu werden. Man darf nicht versuchen, einen durchgehende Storybogen zu finden. Will man diesen Film halbwegs erfassen, muss man sich der orgiastischen Bilder- und Tonsprache hingeben und einfach genießen und staunen.
Die Schauspieler liefern durchweg großartige Leistungen ab. Allen voran Jared Leto, der Nemos verschiedene Inkarnationen so einzigartig umsetzt, dass man ihn oftmals nicht auf den ersten Blick erkennt – vom Bürohengst mit Schlips und Kragen bis zum langhaarigen, unrasierten Obdachlosen ist alles dabei. Auch Sarah Polley glänzt als depressive Elise, die sich selbst hasst.
Ich kann mich nicht erinnern, wann mich ein Film dermaßen ergriffen hat. Jaco von Dormael führte aus, dass er 10 Jahre an dem Film gearbeitet hat, davon allein 7 Jahre am Drehbuch. Jeder Tag hat sich gelohnt!
„Mr Nobody“ ist ein Meisterwerk. Es wäre zu wünschen, wenn er auch an den Kinokassen zu einem Erfolg mausern würde. In Deutschland kommt er am
8. Juli 2010 in die Kinos – also ziemlich bald.
10 von 10 feuchten Blättern auf der Straße
Gruß
Ralf